3 . Theoretische und praktische Begründung

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3.1. Theoretische Begründung

Für John Dewey ist Demokratie keine Theorie oder Praxis, die bloß repräsentativ ausgeübt oder abstrakt erörtert werden sollte. Demokratie beginnt immer im Kleinen, d.h. vor allem in der Erziehung vor Ort. Hier ist es schon ein Widerspruch in sich, wenn wir Demokratie bloß lehren statt konkret leben wollten. Demokratische Mitbestimmung kann auch nicht warten, bis die Kinder angeblich groß genug geworden sind, sondern muss von vornherein auf allen Altersstufen – den Möglichkeiten der Altersgruppe entsprechend – praktiziert werden. Daraus folgt ein grundsätzlich partizipativer pädagogischer Ansatz, den auch die konstruktivistische Didaktik vertritt.
Ziel der Pädagogik Freinets ist es ebenfalls, eine möglichst hohe Selbsttätigkeit der Schüler zu erreichen. Der Klassenrat hat hier die politische Aufgabe, ein hohes Maß an Selbstbestimmung zu ermöglichen. Diese Unterrichtsmethode (Freinet verwendet anstelle von „Methode“ den Begriff der „Technik“) ist dazu geeignet, auch in der traditionellen Schule eine innere Reform des Unterrichts zu realisieren. Der Klassenrat eignet sich dabei nicht nur zur Abstimmung und Planung klassenbezogener Aktivitäten, sondern sollte auch hier wie bei Dewey dazu dienen, Demokratie als Prozess erfahrbar zu machen. Die Schüler erfahren dadurch eine umfassende Selbstverantwortung eigener Entscheidungen und eigenen Handelns, die sie auch dazu motivieren können und sollen, politisch autonomer zu handeln.
Die üblichen hierarchischen Strukturen in künstlichen Lernwelten lassen kaum eine selbstverantwortliche Beteiligung der Schüler am Unterrichtsprozess zu. Der Lehrer übt in seiner Funktion als Repräsentant des Schulsystems immer einseitig Macht auf die Schüler aus, wenn diese nicht eine grundsätzliche Chance der Mitbestimmung erhalten. Um Mitbestimmung tatsächlich zu praktizieren, ist es notwendig Regeln, Bestimmungen und Rahmenbedingungen zu begründen, und diese durch konstruktiven Diskurs für alle Beteiligten transparent und einsichtig zu machen. Bei der inhaltlichen Festlegung von Zielen ist der Klassenrat ein Mittel zum Machtabbau auf Seiten des Lehrenden, und er fördert die Selbstbestimmung, das Verantwortungsgefühl und das Sozialverhalten aller Beteiligten (vgl. auch bei Dewey das Prinzip der Mitbestimmung). Der Klassenrat sollte ein machtvolles Instrument im Schulsystem sein, um von den Schülern und Lehrern ernst genommen zu werden.
Der Klassenrat dient zur demokratischen Entscheidungsfindung und Problemlösung von gruppen-, klassen- und schulbezogenen Vorhaben und Konflikten, sowie zur Verbesserung der Gruppendynamik, der Sozialstruktur und der Kommunikation. Meinungsbildung, Kritikfähigkeit, das Vertreten eigener Interessen und Rücksichtnahme werden gefördert. Da die gesamte Gruppe den Entscheidungsprozess und die Aufgabenbewältigung trägt, sich gegenseitig unterstützt und hilft, wird der Lehrer aus seiner Rolle als „Richter“ und „Sanktionierer“ entlassen. Es kann zumindest tendenziell eine gleichberechtigte Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden hergestellt werden. Die Akzeptanz für Lösungen steigt, wenn sie gemeinsam erarbeitet und per Abstimmung festgelegt werden und so durch Einsicht übernommen werden können. Bei Freinet behält der Lehrende allerdings ein gewisses Machtmonopol dadurch, dass er die Diskussionen über Abstimmungen mit beeinflusst und sein Veto ggf. einbringen kann. Allerdings kommt dies in der Praxis eher sehr selten vor.
Durch den gemeinsamen, kreativen Prozess im Klassenrat, kann es den Lernern gelingen, sinnvolle Entscheidungen zu erzielen, die durch Diskussion und Abstimmung begründet sind. Die Realisierung der Ergebnisse lässt sie neue Möglichkeiten in der Gruppe, im Klassenverband und im System Schule entdecken und erfahren. Es wird möglich, an bestehenden Mustern, Abläufen und Systemen begründete Zweifel zu entwickeln und Kritik zu äußern. Neue Wege und Methoden werden sichtbar.


3.2. Praktische Begründung

Sowohl bei der Findung von Zielen und der Arbeit mit Inhalten als auch bei Beziehungskonflikten ist es entscheidend, ein Lernen durch Einsicht, emotionales Verständnis und die Bereitschaft, sich in andere hineinversetzen zu können, zu entwickeln. Hierzu kann der Gruppen- oder Klassenrat ein wesentliches Instrument sein, das jedoch in der Praxis nicht von Lehrenden bloß für ihre Interessen instrumentalisiert werden darf. Im Klassenrat werden gemeinsam Regeln erfunden, diskutiert und abgestimmt, an die sich alle halten sollen. Es gehört zu diesen Regeln, auch Konsequenzen zu formulieren, was geschieht, wenn diese Regeln verletzt werden. So kann jeder Teilnehmer lernen, sich miteinander zu verständigen, wie man sich in einer Gruppe am besten verständigt, wie man das Lernen und die Beziehungskultur angemessen organisiert, um eigene Freiheiten so zu leben, dass die Freiheiten anderer dadurch nicht zu stark beschränkt werden. So entsteht in der Praxis keineswegs ein machtfreier Raum, denn auch Regeln sanktionieren und kontrollieren. Aber diese Sanktionen und Kontrollen stehen im Kontext des Willens der Gruppe, sie sind aus einem Bewusstsein für Kontext und Entwicklungsmöglichkeiten begründet und lassen so viel mehr Raum für Einsicht als bei von außen gesetzten Normen. Der Klassenrat oder andere Mitbestimmungsformen sind daher notwendige Instrumente nicht nur einer demokratischen Orientierung, wie sie die konstruktivistische Didaktik als Mindestmaß von Partizipation fordert, sondern sie sind auch Formen einer angemessenen Beziehungsarbeit, die für alle Lerngruppen als erforderlich erscheint. Lerner sind immer mit verantwortlich für die Beziehungen, die sie eingehen und gestalten. Wenn Lehrende ihnen hierüber Ressourcen der Gestaltung und Möglichkeiten für eigene Lösungen verweigern, dann verweigern sie auch eine angemessene, offene und kritische Beziehungsgestaltung.