Demokratie lernen und Politik lernen – ein Gegensatz?


zitiert nach: http://www.bpb.de/veranstaltungen/YB62AC,0,0,Demokratie_lernen_und_Politik_lernen_%96_ein_Gegensatz.html

 

Prof. Gerhard Himmelmann

In jüngster Zeit hat die politische Bildung in Deutschland einen deutlichen Anstoß zur Weiterentwicklung erfahren. Galt es bisher als ausgemacht, dass die "politische" Bildung sich auf die Analyse und die Beurteilung "politischer" Fragen im engeren Sinne konzentrieren solle, so stellen neuere Initiativen ein breiter angelegtes "Demokratie-Lernen" ins Zentrum der didaktischen Bemühungen. Der "politik-orientierte" Ansatz hat seinen prägnantesten Ausdruck 1995 in dem von Massing und Weißeno vorgestellten Ansatz "Politik als Kern der politischen Bildung" gefunden. Die Autoren gehen zur Aufschlüsselung von "Politik" auf die drei Dimensionen von Form, Inhalt und Prozess (polity, policy und politics) zurück, um die entsprechenden Problem- und Themenfelder "politik-orientiert" im kognitiven Sinne bearbeiten zu können. In den neueren Initiativen werden dagegen deutlichere Akzente in Richtung auf eine breiter angelegte Demokratie-Theorie, auf eine erfahrungs- und wertbezogene demokratische Praxis sowie, didaktisch gesprochen, auf demokratische Verhaltens- und Handlungsorientierung gesetzt.

1.       Eine solche praktische, auf die Schule bezogene Richtung des Demokratie-Lernens verfolgen Beutel, Fauser und Edelstein. Sie haben mit dem Ansatz "Erfahrene Demokratie" bzw. "Demokratie – lernen und leben" einen wichtigen Markstein gesetzt. Dieser Ansatz ist ausgesprochen projektorientiert angelegt. Demokratie soll gelernt und zugleich gelebt werden. Der Ansatz hat sich seit 1990 durch eine Vielzahl konkreter Projekte sehr erfolgreich entwickelt. Er wurde durch vielfältige Studien untermauert und fand eine nachhaltige finanzielle Unterstützung durch freie Stiftungen (Freudenberg-Stiftung, Robert-Bosch-Stiftung, Jacobs-Stiftung, Deutsches Jugendinstitut). Der Ansatz hat schließlich im Jahre 2002 eine Projektförderung durch die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung in Höhe von immerhin ca. 12 Mio. Euro erlangt. Dies ist ein Förderbetrag, von dem die bisherige politische Bildung als Fachdisziplin nur träumen kann. Gleichwohl wird dieser Ansatz in Teilen der politischen Bildung kritisch beäugt, anstatt als willkommener Bündnispartner in der Sache begrüßt zu werden.

Parallel zu den Bemühungen von Beutel, Fauser und Edelstein sollte in diesem Zusammenhang auch das interessante "Lernprogramm der Demokratie" von Christian Büttner und Bernhard Meyer nicht unerwähnt bleiben.

2.       Der von mir vorgetragene Ansatz des "Demokratie-Lernens" stellt den Versuch dar, eine enge Kopplung von Politikwissenschaft als Demokratie-Wissenschaft und der Fachdidaktik der politischen Bildung als "Demokratie-Lernen" herzustellen. Er zeigt auf pragmatischer Grundlage die "strukturelle Kopplung" (N. Luhmann) von Demokratie als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform und überträgt diese Kopplung im Sinne eines schulstufenübergreifenden "Demokratie-Lernens" in die Didaktik.

3.       Eine dritte Initiative in Richtung des Demokratie-Lernens leitet sich aus der internationalen Diskussion über "civic education" ab. Der Ansatz von "civic education" lässt sich in der deutsch-sprachigen Übertragung nicht einfach mit "politischer Bildung" übersetzen. Würde man den Terminus "politische Bildung" ins Englische übersetzen, so käme dabei wohl der Begriff "political education" heraus, was englisch-sprachige Autoren sehr schnell als "political indoctrination" auffassen und eher mit einer anderen Tradition als mit der Demokratie-Erziehung in der Bundesrepublik verknüpfen könnten. Das Konzept von "civic education" greift im Übrigen sachlich-thematisch breiter und ist didaktisch sehr viel tiefer angelegt. So hat das deutsche Team einer entsprechenden Europarats-Initiative unter der Federführung von Karlheinz Dürr den Terminus "civic education" mit "Demokratie-Lernen" übersetzt. Auch dieser Ansatz stellt – aus internationaler Sicht – eine Herausforderung für die traditionelle Fachdidaktik der politischen Bildung in der Bundesrepublik dar, denn bisher fehlt es der deutschen Politikdidaktik – mit wenigen Ausnahmen (Sliwka, Koopmann) – an einem Bezug zur internationalen Diskussion. Die deutsche Diskussion erscheint bisher zuweilen eher selbstbezüglich. Allerdings muss die deutsche Auswertung des internationalen Ländervergleichs zum Projekt "civic education" in diesem Zusammenhang erwähnt werden (Händle/Oesterreich/Trommer). Die Autoren befassen sich jedoch weniger mit dem Leitbegriff "civic education" und seinen konzeptionellen Grundlagen, sondern erörtern – zum wiederholten Male – die recht unbefriedigenden Lage der politischen Bildung im föderalen Deutschland, analysieren die unterschiedlichen Lehrpläne, stellen Expertenbefragungen vor und geben Hinweise auf ausgewählte Projekte. Im Weiteren präsentiert Oesterreich die eigentlichen Befragungsergebnisse der internationale vergleichenden Studie vor, die für die deutschen Schülerinnen und Schüler – wie die PISA-Studie – nicht eben beglückend ausfallen.

Ich selbst sehe in den angesprochenen drei Initiativen eine begrüßenswerte Erweiterung des bisherigen Ansatzes der "politischen" Bildung in der Bundesrepublik.

An dieser Stelle also eine übersteigerte "Kontroverse" vorzutragen wäre für die Sache, um die es geht, wenig hilfreich, denn im Grunde sind viele Didaktiker der politischen Bildung auch in der Bundesrepublik auf einem sehr ähnlichen Weg. So hat Peter Henkenborg in vielen Aufsätzen die Verbindung des Demokratie-Lernens zu einem demokratisch-sozialintegrativen Unterrichtsstil und zu einer demokratischen Schulkultur hervorgehoben. Er hat damit der aktuellen Diskussion um die Schulpolitik nach PISA vorgegriffen und einen Brückenschlag zur Pädagogik vollzogen. Wolfgang Sander hat bereits 1992 Demokratie und "Demokratie-Fähigkeit" als das zentrale Schlüsselproblem den bekannten Schlüsselproblemen von Wolfgang Klafki vorangestellt und im neuen Thüringischen Lehrplan von 1999 in Vorrangstellung gebracht. In seinem neuen Buch spricht er in vielen Redewendungen davon, dass der Kern der politischen Bildung in den "Grundfragen der Regelung des menschlichen Zusammenlebens" liege. In diesem breiten Zugang kann man eine geeignete Verbindung zu einem mehrstufigen und fächerübergreifenden Konzept des Demokratie-Lernens sehen. Diese Verbindungslinie müsste freilich noch deutlicher ausformuliert werden. Peter Massing wiederum sieht zwar im "Demokratie-Lernen" keinen Ersatz zum "Politik-Lernen". Er zeigt doch ebenfalls in seinen vielfältigen Schriften immer wieder, wie eng die Beziehungen von Demokratie und Politik-Lernen selbst sind.

Ich möchte hier nun nicht in die Lage kommen, in ein "name-dropping" zu verfallen, um meine eigene Position zu untermauern. Aber zu erwähnen ist dennoch, dass z. B. Sibylle Reinhardt ihre Interpretationen zur Sachsen-Anhalt-Studie "Jugend und Demokratie" betont als Analysen zum "Demokratie-Lernen" zu erkennen gibt. Und Peter Herdegen hat in letzter Zeit seine früheren Studien zum sozialen und politischen Lernen ergänzt durch eine Einführung mit dem Titel "Demokratische Bildung". Viele andere Autoren in der Interpretations- und Experimentiergemeinschaft der politischen Bildung sind ebenfalls auf dem Weg, eine engere Beziehung zwischen dem bisherigen Politik-Lernen und den neuen Ansätzen des "Demokratie-Lernens" zu knüpfen. Ich nenne an dieser Stelle nur Gotthard Breit, Siegfried Schiele, Anton Hauber/Stephanie Schick/Hartmut Wasser sowie Gerd Hepp/Herbert Schneider u. v. a. m. In diesem Diskussionsprozess können wir alle nur voneinander lernen, Bündnispartner suchen und akzeptieren und damit die Basis für das gemeinsame Anliegen verbreitern.

Ich selbst habe in meinem Ansatz des "Demokratie-Lernens" das "Politik-Lernen" ja nicht ausgeschlossen, sondern eng gekoppelt mit "Demokratie-Kompetenz" zum Schwerpunkt meiner Strukturmatrix zum Thema: "Erziehung/Bildung zur demokratie-kompetenten Bürgerschaftlichkeit" in der Sekundarstufe II gewählt. Allerdings werte ich das "soziale Lernen" und die Förderung von "sozialer Kompetenz" auf der Ebene der "Demokratie als Gesellschaftsform" ebenso wenig ab wie das individuelle "Selbst-Lernen" und die nicht zu unterschätzende "Lebenshilfe" (G. Breit) für die Schülerinnen und Schüler auf der Ebene der "Demokratie als Lebensform". Auf allen drei Ebenen sollte das Konzept der Erziehung zur Demokratie, zur Demokratiefähigkeit, fortentwickelt werden.

Zuletzt bliebe noch hinzuzufügen:

Der Ansatz "Demokratie als Lebensform" mag vielen Diskussionsteilnehmern noch eher fremd erscheinen, obwohl dieser Ansatz gerade für die Theorie einer demokratischen Erziehung und einer Erziehung zur Demokratie in den Schulen sicherlich zentral ist (John Dewey). Wer sich heute in der neueren Literatur umsieht, wird erstaunt sein, wie oft doch der Ansatz der "Demokratie als Lebensform" (und die gesellschaftliche Fundierung von Demokratie) heute in der Fachliteratur wieder herangezogen wird, um – gegenüber einer eingeschränkt etatistischen Orientierung – darauf hinzuweisen, dass jegliche Demokratie, gleichsam die "Idee der Demokratie", eine individual- und sozial-moralische Untermauerung braucht, um als politische Herrschaftsform dauerhaft lebensfähig zu sein. Wir dürfen Demokratie-Lernen außerdem nicht lediglich als kognitives Lernen auffassen, nicht auf die Sekundarstufe II beschränken. Jeglicher didaktischer Ansatz des Demokratie-Lernens muss sich auch auf die Grundschulen beziehen lassen.

In Abwandlung eines Satzes von Ernst-Wolfgang Böckenförde meine ich: "Die politische Demokratie lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann". Diese Voraussetzungen müssen wir alle in einer breiten politischen Bildung der "civic education" bzw. des Demokratie-Lernens selbst mit schaffen. Darin liegt unser Auftrag, denn Demokratie ergibt sich nicht naturwüchsig, niemand wird als Demokrat geboren und Demokraten fallen nicht einfach vom Himmel. Jede Generation muss neu daran gewöhnt werden und entsprechende Erfahrungen – auch im Kleinen – sammeln können.

Nach dem Fall der Mauer und eines Großteils der kommunistischen Systeme in der Welt hat die westliche Demokratie ihre bisher wichtigste ´"Anlehnstütze" und – in ihrem Gegenpol – zugleich ihren wichtigsten Legitimationspunkt verloren. Sie muss sich heute viel stärker als früher "aus sich selbst heraus" legitimieren, sozialkulturell untermauern und sich in einem ständigen Selbst- und Neuschöpfungsprozess durch Bildung und Erziehung bewähren (Hans Joas). Man erinnere sich, dass sich die Fachdiskussion über das "System Demokratie" in seinen vielfältigen Ausprägungen, über die Frage der Demokratie-Qualität bzw. der Demokratie-Messung und über die Ausbreitung von Demokratie in der Welt seit den 90er Jahren enorm gewandelt hat. Sie neigt – neben der rein etatistischen Orientierung ("machinery of government") – heute viel stärker zu einer kulturellen Orientierung (Greven). Nicht zuletzt deshalb hat die Frage des Demokratie-Lernens gerade auf diesem Kongress mit dem Titel "Dialog der Kulturen" seinen berechtigten Platz. Auch diesen Wandlungen sollte sich die Politik-Didaktik, wenn sie das Demokratie-Lernen fördern will, in höherem Maße als bisher stellen.

Ich sehe mit Optimismus in die Zukunft, dass wir alle voneinander noch sehr viel lernen können. Demokratie-Lernen sollte mit einer spezifischen Demokratie-Wissenschaft untermauert, mit einer spezifischen Demokratie-Politik verbunden und einer ebenso spezifischen Demokratie-Pädagogik verzahnt werden. Dann wird sich das Demokratie-Lernen im höchsten Grade als "politisch" erweisen, also letztlich mit Politik-Lernen identisch sein. Denn das "Projekt Demokratie" ist noch nicht vollendet und in seinem Bestand immer wieder gefährdet. Es kann sich seiner Zukunftsfähigkeit nie gewiss sein. Es sei denn, wir alle wirken an seiner stetigen Neuschöpfung und Evolution mit, weil wir der Meinung sind und die Erfahrung gemacht haben, dass diese Form des Zusammenlebens trotz aller menschlichen und systematischen Unzuträglichkeiten doch zumindest "menschenerträglich" und deshalb erhaltenswert ist und gegenüber den vielfältigen Anfechtungen stabilisiert werden sollte. Die Sache ist kompliziert genug, denn Demokratie und demokratische Politik bleiben eine stete Beleidigung eines jeden selbstgewissen Egos (R. Wernstedt).

Literaturhinweise

Breit, Gotthard/Schiele, Siegfried (Hrsg.): Demokratie-Lernen als Aufgabe der politischen Bildung. Schwalbach/Ts. 2002.
Beutel, Wolfgang/Fauser, Peter (Hrsg.): Erfahrene Demokratie. Wie Politik praktisch gelernt werden kann. Opladen 2001.
Büttner, Christian/Meyer, Bernhard (Hrsg.): Lernprogramm Demokratie. Möglichkeiten und Grenzen politischer Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Weinheim und München 2000.
Council for Cultural Co-Operation (CDCC): Projekt on "Education for democratic citizenship", Demokratie-Lernen in Europa, bearb. v. Dürr, Karlheinz/Martins, Isabel Ferreira/Spajic-Vrkas, Vedrana. Originaltitel: "Strategies for learning democratic citizenship". Straßburg 31. August 2001, zu beziehen über Karlheinz Dürr, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg.
Edelstein, Wolfgang/Fauser, Peter: Demokratie lernen und leben. Gutachten zum Programm. Materialien zur Bildungsplanung und Forschungsförderung, H. 96/2001.
Greven, Michael (Hrsg.): Demokratie – eine Kultur des Westens? 20. Wissenschaftlicher Kongress der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft. Opladen 1998.
Händle, Christa/Oesterreich, Detlef/Trommer Luitgard: Aufgaben politischer Bildung in der Sekundarstufe I. Studien aus dem Projekt Civic Education. Opladen 1999.
Hafeneger, Benno/Henkenborg, Peter/Scherr, Albert (Hrsg.): Pädagogik der Anerkennung. Schwalbach/Ts. 2002.
Hauber, Anton/Schick, Stephani/Wasser, Hartmut: Kommunitarismus und Politische Bildung. Hamburg 2001.
Hepp, Gerd/Schneider Herbert (Hrsg.): Schule in der Bürgergesellschaft. Demokratisches Lernen im Lebens-, und Erfahrungsraum Schule. Schwalbach/Ts. 1999.
Herdegen, Peter: Demokratische Bildung. Donauwörth 2001.
Himmelmann, Gerhard: Demokratie-Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform. Schwalbach/Ts. 2001.
Joas, Hans (Hrsg.): Philosophie der Demokratie. Frankfurt/M. 2000.
Krüger, Heinz-Hermann/Reinhardt Sibylle u. a.: Jugend und Demokratie – Politische Bildung auf dem Prüfstand. Eine quantitative und qualitative Studie aus Sachsen-Anhalt. Opladen 2002.
Massing, Peter/Weißeno, Georg (Hrsg.): Politik als Kern der politischen Bildung. Wege zur Überwindung unpolitischen Politikunterrichts. Opladen 1995.
Oelkers, Jürgen (Hrsg.): John Dewey: Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. Neuauflage Weinheim und Basel 2000.
Oesterreich, Detlef: Politische Bildung von 14jährigen in Deutschland. Studien aus dem Projekt Civic Education. Opladen 2002.
Rülker, Tobias/Oelkers, Jürgen (Hrsg.): Politische Reformpädagogik. Bern 1998.
Sander, Wolfgang (Hrsg.): Konzepte der Politikdidaktik. Hannover 1992.
Sander, Wolfgang: Politik entdecken – Freiheit leben. Neue Lernkulturen in der politischen Bildung, Schwalbach/Ts. 2001.
Sliwka, Anne: Demokratie – lernen und leben. Gutachten der Freudenberg Stiftung, Bd. II: Das anglo-amerikanische Beispiel. Civic Education – Bildung für die Zivilgesellschaft. Weinheim 2001.