Prof. Gerhard Himmelmann
In jüngster Zeit hat die politische Bildung in Deutschland einen deutlichen
Anstoß zur Weiterentwicklung erfahren. Galt es bisher als ausgemacht, dass
die "politische" Bildung sich auf die Analyse und die Beurteilung
"politischer" Fragen im engeren Sinne konzentrieren solle, so
stellen neuere Initiativen ein breiter angelegtes "Demokratie-Lernen"
ins Zentrum der didaktischen Bemühungen. Der "politik-orientierte"
Ansatz hat seinen prägnantesten Ausdruck 1995 in dem von Massing
und Weißeno vorgestellten Ansatz "Politik als
Kern der politischen Bildung" gefunden. Die Autoren gehen zur
Aufschlüsselung von "Politik" auf die drei Dimensionen von Form,
Inhalt und Prozess (polity, policy
und politics) zurück, um die entsprechenden
Problem- und Themenfelder "politik-orientiert" im kognitiven Sinne
bearbeiten zu können. In den neueren Initiativen werden dagegen deutlichere
Akzente in Richtung auf eine breiter angelegte Demokratie-Theorie, auf eine
erfahrungs- und wertbezogene demokratische Praxis sowie, didaktisch
gesprochen, auf demokratische Verhaltens- und Handlungsorientierung gesetzt.
1.
Eine solche praktische, auf die Schule bezogene Richtung des
Demokratie-Lernens verfolgen Beutel, Fauser und
Edelstein. Sie haben mit dem Ansatz "Erfahrene Demokratie" bzw.
"Demokratie – lernen und leben" einen wichtigen Markstein gesetzt.
Dieser Ansatz ist ausgesprochen projektorientiert angelegt. Demokratie soll
gelernt und zugleich gelebt werden. Der Ansatz hat sich seit 1990 durch eine
Vielzahl konkreter Projekte sehr erfolgreich entwickelt. Er wurde durch
vielfältige Studien untermauert und fand eine nachhaltige finanzielle
Unterstützung durch freie Stiftungen (Freudenberg-Stiftung,
Robert-Bosch-Stiftung, Jacobs-Stiftung, Deutsches Jugendinstitut). Der Ansatz
hat schließlich im Jahre 2002 eine Projektförderung durch die
Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung in Höhe
von immerhin ca. 12 Mio. Euro erlangt. Dies ist ein Förderbetrag, von dem die
bisherige politische Bildung als Fachdisziplin nur träumen kann. Gleichwohl
wird dieser Ansatz in Teilen der politischen Bildung kritisch beäugt, anstatt
als willkommener Bündnispartner in der Sache begrüßt zu werden.
Parallel zu den Bemühungen von Beutel, Fauser und
Edelstein sollte in diesem Zusammenhang auch das interessante
"Lernprogramm der Demokratie" von Christian Büttner und Bernhard
Meyer nicht unerwähnt bleiben.
2.
Der von mir vorgetragene Ansatz des
"Demokratie-Lernens" stellt den Versuch dar, eine enge Kopplung von
Politikwissenschaft als Demokratie-Wissenschaft und der Fachdidaktik der
politischen Bildung als "Demokratie-Lernen" herzustellen. Er zeigt auf
pragmatischer Grundlage die "strukturelle Kopplung" (N. Luhmann)
von Demokratie als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform und überträgt
diese Kopplung im Sinne eines schulstufenübergreifenden
"Demokratie-Lernens" in die Didaktik.
3.
Eine dritte Initiative in Richtung des Demokratie-Lernens leitet
sich aus der internationalen Diskussion über "civic
education" ab. Der Ansatz von "civic education" lässt
sich in der deutsch-sprachigen Übertragung nicht
einfach mit "politischer Bildung" übersetzen. Würde man den
Terminus "politische Bildung" ins Englische übersetzen, so käme
dabei wohl der Begriff "political education" heraus, was englisch-sprachige
Autoren sehr schnell als "political indoctrination" auffassen und eher mit einer anderen
Tradition als mit der Demokratie-Erziehung in der Bundesrepublik verknüpfen
könnten. Das Konzept von "civic education" greift im Übrigen sachlich-thematisch
breiter und ist didaktisch sehr viel tiefer angelegt. So hat das deutsche
Team einer entsprechenden Europarats-Initiative unter der Federführung von
Karlheinz Dürr den Terminus "civic education" mit "Demokratie-Lernen"
übersetzt. Auch dieser Ansatz stellt – aus internationaler Sicht – eine
Herausforderung für die traditionelle Fachdidaktik der politischen Bildung in
der Bundesrepublik dar, denn bisher fehlt es der deutschen Politikdidaktik –
mit wenigen Ausnahmen (Sliwka, Koopmann)
– an einem Bezug zur internationalen Diskussion. Die deutsche Diskussion
erscheint bisher zuweilen eher selbstbezüglich. Allerdings muss die deutsche
Auswertung des internationalen Ländervergleichs zum Projekt "civic education" in diesem
Zusammenhang erwähnt werden (Händle/Oesterreich/Trommer). Die
Autoren befassen sich jedoch weniger mit dem Leitbegriff "civic education" und
seinen konzeptionellen Grundlagen, sondern erörtern – zum wiederholten Male –
die recht unbefriedigenden Lage der politischen Bildung im föderalen
Deutschland, analysieren die unterschiedlichen Lehrpläne, stellen
Expertenbefragungen vor und geben Hinweise auf ausgewählte Projekte. Im
Weiteren präsentiert Oesterreich die eigentlichen
Befragungsergebnisse der internationale
vergleichenden Studie vor, die für die deutschen Schülerinnen und Schüler –
wie die PISA-Studie – nicht eben beglückend
ausfallen.
Ich selbst sehe in den angesprochenen drei Initiativen eine begrüßenswerte
Erweiterung des bisherigen Ansatzes der "politischen" Bildung in
der Bundesrepublik.
An dieser Stelle also eine übersteigerte "Kontroverse" vorzutragen
wäre für die Sache, um die es geht, wenig hilfreich, denn im Grunde sind
viele Didaktiker der politischen Bildung auch in der Bundesrepublik auf einem
sehr ähnlichen Weg. So hat Peter Henkenborg in
vielen Aufsätzen die Verbindung des Demokratie-Lernens zu einem
demokratisch-sozialintegrativen Unterrichtsstil und zu einer demokratischen
Schulkultur hervorgehoben. Er hat damit der aktuellen Diskussion um die
Schulpolitik nach PISA vorgegriffen und einen Brückenschlag zur Pädagogik
vollzogen. Wolfgang Sander hat bereits 1992 Demokratie und
"Demokratie-Fähigkeit" als das zentrale Schlüsselproblem den
bekannten Schlüsselproblemen von Wolfgang Klafki
vorangestellt und im neuen Thüringischen Lehrplan von 1999 in Vorrangstellung
gebracht. In seinem neuen Buch spricht er in vielen Redewendungen davon, dass
der Kern der politischen Bildung in den "Grundfragen der Regelung des
menschlichen Zusammenlebens" liege. In diesem breiten Zugang kann man
eine geeignete Verbindung zu einem mehrstufigen und fächerübergreifenden
Konzept des Demokratie-Lernens sehen. Diese Verbindungslinie müsste freilich
noch deutlicher ausformuliert werden. Peter Massing
wiederum sieht zwar im "Demokratie-Lernen" keinen Ersatz zum
"Politik-Lernen". Er zeigt doch ebenfalls in seinen vielfältigen
Schriften immer wieder, wie eng die Beziehungen von Demokratie und Politik-Lernen
selbst sind.
Ich möchte hier nun nicht in die Lage kommen, in ein "name-dropping" zu verfallen, um meine eigene
Position zu untermauern. Aber zu erwähnen ist dennoch, dass z. B. Sibylle
Reinhardt ihre Interpretationen zur Sachsen-Anhalt-Studie "Jugend und
Demokratie" betont als Analysen zum "Demokratie-Lernen" zu
erkennen gibt. Und Peter Herdegen hat in letzter
Zeit seine früheren Studien zum sozialen und politischen Lernen ergänzt durch
eine Einführung mit dem Titel "Demokratische Bildung". Viele andere
Autoren in der Interpretations- und Experimentiergemeinschaft der politischen
Bildung sind ebenfalls auf dem Weg, eine engere Beziehung zwischen dem
bisherigen Politik-Lernen und den neuen Ansätzen des
"Demokratie-Lernens" zu knüpfen. Ich nenne an dieser Stelle nur
Gotthard Breit, Siegfried Schiele, Anton Hauber/Stephanie
Schick/Hartmut Wasser sowie Gerd Hepp/Herbert
Schneider u. v. a. m. In diesem Diskussionsprozess können wir alle nur
voneinander lernen, Bündnispartner suchen und akzeptieren und damit die Basis
für das gemeinsame Anliegen verbreitern.
Ich selbst habe in meinem Ansatz des "Demokratie-Lernens" das
"Politik-Lernen" ja nicht ausgeschlossen, sondern eng gekoppelt mit
"Demokratie-Kompetenz" zum Schwerpunkt meiner Strukturmatrix zum Thema:
"Erziehung/Bildung zur demokratie-kompetenten Bürgerschaftlichkeit"
in der Sekundarstufe II gewählt. Allerdings werte ich das "soziale
Lernen" und die Förderung von "sozialer Kompetenz" auf der
Ebene der "Demokratie als Gesellschaftsform" ebenso wenig ab wie
das individuelle "Selbst-Lernen" und die nicht zu unterschätzende
"Lebenshilfe" (G. Breit) für die Schülerinnen und Schüler auf der
Ebene der "Demokratie als Lebensform". Auf allen drei Ebenen sollte
das Konzept der Erziehung zur Demokratie, zur Demokratiefähigkeit,
fortentwickelt werden.
Zuletzt bliebe noch hinzuzufügen:
Der Ansatz "Demokratie als Lebensform" mag vielen
Diskussionsteilnehmern noch eher fremd erscheinen, obwohl dieser Ansatz
gerade für die Theorie einer demokratischen Erziehung und einer Erziehung zur
Demokratie in den Schulen sicherlich zentral ist (John Dewey). Wer sich heute
in der neueren Literatur umsieht, wird erstaunt sein, wie oft doch der Ansatz
der "Demokratie als Lebensform" (und die gesellschaftliche Fundierung
von Demokratie) heute in der Fachliteratur wieder herangezogen wird, um –
gegenüber einer eingeschränkt etatistischen
Orientierung – darauf hinzuweisen, dass jegliche Demokratie, gleichsam die
"Idee der Demokratie", eine individual- und sozial-moralische
Untermauerung braucht, um als politische Herrschaftsform dauerhaft
lebensfähig zu sein. Wir dürfen Demokratie-Lernen außerdem nicht lediglich
als kognitives Lernen auffassen, nicht auf die Sekundarstufe II beschränken.
Jeglicher didaktischer Ansatz des Demokratie-Lernens muss sich auch auf die
Grundschulen beziehen lassen.
In Abwandlung eines Satzes von Ernst-Wolfgang Böckenförde meine ich:
"Die politische Demokratie lebt von Voraussetzungen, die sie selbst
nicht garantieren kann". Diese Voraussetzungen müssen wir alle in einer
breiten politischen Bildung der "civic education" bzw. des Demokratie-Lernens selbst mit
schaffen. Darin liegt unser Auftrag, denn Demokratie ergibt sich nicht
naturwüchsig, niemand wird als Demokrat geboren und Demokraten fallen nicht
einfach vom Himmel. Jede Generation muss neu daran gewöhnt werden und
entsprechende Erfahrungen – auch im Kleinen – sammeln können.
Nach dem Fall der Mauer und eines Großteils der kommunistischen Systeme in
der Welt hat die westliche Demokratie ihre bisher wichtigste
´"Anlehnstütze" und – in ihrem Gegenpol – zugleich ihren
wichtigsten Legitimationspunkt verloren. Sie muss sich heute viel stärker als
früher "aus sich selbst heraus" legitimieren, sozialkulturell
untermauern und sich in einem ständigen Selbst- und Neuschöpfungsprozess
durch Bildung und Erziehung bewähren (Hans Joas). Man erinnere sich, dass
sich die Fachdiskussion über das "System Demokratie" in seinen
vielfältigen Ausprägungen, über die Frage der Demokratie-Qualität bzw. der
Demokratie-Messung und über die Ausbreitung von Demokratie in der Welt seit
den 90er Jahren enorm gewandelt hat. Sie neigt – neben der rein etatistischen Orientierung ("machinery
of government") – heute viel stärker zu einer
kulturellen Orientierung (Greven). Nicht zuletzt deshalb hat die Frage des
Demokratie-Lernens gerade auf diesem Kongress mit dem Titel "Dialog der
Kulturen" seinen berechtigten Platz. Auch diesen Wandlungen sollte sich
die Politik-Didaktik, wenn sie das Demokratie-Lernen fördern will, in höherem
Maße als bisher stellen.
Ich sehe mit Optimismus in die Zukunft, dass wir alle voneinander noch sehr
viel lernen können. Demokratie-Lernen sollte mit einer spezifischen
Demokratie-Wissenschaft untermauert, mit einer spezifischen
Demokratie-Politik verbunden und einer ebenso spezifischen
Demokratie-Pädagogik verzahnt werden. Dann wird sich das Demokratie-Lernen im
höchsten Grade als "politisch" erweisen, also letztlich mit
Politik-Lernen identisch sein. Denn das "Projekt Demokratie" ist
noch nicht vollendet und in seinem Bestand immer wieder gefährdet. Es kann
sich seiner Zukunftsfähigkeit nie gewiss sein. Es sei denn, wir alle wirken
an seiner stetigen Neuschöpfung und Evolution mit, weil wir der Meinung sind
und die Erfahrung gemacht haben, dass diese Form des Zusammenlebens trotz
aller menschlichen und systematischen Unzuträglichkeiten doch zumindest
"menschenerträglich" und deshalb erhaltenswert ist und gegenüber
den vielfältigen Anfechtungen stabilisiert werden sollte. Die Sache ist
kompliziert genug, denn Demokratie und demokratische Politik bleiben eine
stete Beleidigung eines jeden selbstgewissen Egos (R. Wernstedt).
Literaturhinweise
Breit, Gotthard/Schiele, Siegfried (Hrsg.): Demokratie-Lernen als Aufgabe der
politischen Bildung. Schwalbach/Ts. 2002.
Beutel, Wolfgang/Fauser, Peter (Hrsg.): Erfahrene
Demokratie. Wie Politik praktisch gelernt werden kann. Opladen
2001.
Büttner, Christian/Meyer, Bernhard (Hrsg.): Lernprogramm Demokratie.
Möglichkeiten und Grenzen politischer Erziehung von Kindern und Jugendlichen.
Weinheim und München 2000.
Council for Cultural Co-Operation (CDCC): Projekt on "Education for democratic citizenship",
Demokratie-Lernen in Europa, bearb. v. Dürr,
Karlheinz/Martins, Isabel Ferreira/Spajic-Vrkas, Vedrana. Originaltitel: "Strategies
for learning democratic citizenship".
Straßburg 31. August 2001, zu beziehen über Karlheinz Dürr, Landeszentrale
für politische Bildung Baden-Württemberg.
Edelstein, Wolfgang/Fauser, Peter: Demokratie
lernen und leben. Gutachten zum Programm. Materialien zur Bildungsplanung und
Forschungsförderung, H. 96/2001.
Greven, Michael (Hrsg.): Demokratie – eine Kultur des Westens? 20.
Wissenschaftlicher Kongress der Deutschen Vereinigung für Politische
Wissenschaft. Opladen 1998.
Händle, Christa/Oesterreich,
Detlef/Trommer Luitgard: Aufgaben politischer
Bildung in der Sekundarstufe I. Studien aus dem Projekt Civic Education. Opladen 1999.
Hafeneger, Benno/Henkenborg,
Peter/Scherr, Albert (Hrsg.): Pädagogik der
Anerkennung. Schwalbach/Ts. 2002.
Hauber, Anton/Schick, Stephani/Wasser,
Hartmut: Kommunitarismus und Politische Bildung. Hamburg 2001.
Hepp, Gerd/Schneider Herbert (Hrsg.): Schule in der
Bürgergesellschaft. Demokratisches Lernen im Lebens-, und Erfahrungsraum
Schule. Schwalbach/Ts. 1999.
Herdegen, Peter: Demokratische Bildung. Donauwörth
2001.
Himmelmann, Gerhard: Demokratie-Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und
Herrschaftsform. Schwalbach/Ts. 2001.
Joas, Hans (Hrsg.): Philosophie der Demokratie. Frankfurt/M. 2000.
Krüger, Heinz-Hermann/Reinhardt Sibylle u. a.: Jugend und Demokratie –
Politische Bildung auf dem Prüfstand. Eine quantitative und qualitative
Studie aus Sachsen-Anhalt. Opladen 2002.
Massing, Peter/Weißeno,
Georg (Hrsg.): Politik als Kern der politischen Bildung. Wege zur Überwindung
unpolitischen Politikunterrichts. Opladen 1995.
Oelkers, Jürgen (Hrsg.): John Dewey: Demokratie und
Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. Neuauflage
Weinheim und Basel 2000.
Oesterreich, Detlef: Politische Bildung von
14jährigen in Deutschland. Studien aus dem Projekt Civic Education.
Opladen 2002.
Rülker, Tobias/Oelkers,
Jürgen (Hrsg.): Politische Reformpädagogik. Bern 1998.
Sander, Wolfgang (Hrsg.): Konzepte der Politikdidaktik. Hannover 1992.
Sander, Wolfgang: Politik entdecken – Freiheit leben. Neue Lernkulturen in
der politischen Bildung, Schwalbach/Ts. 2001.
Sliwka, Anne: Demokratie – lernen und leben.
Gutachten der Freudenberg Stiftung, Bd. II: Das anglo-amerikanische
Beispiel. Civic Education – Bildung für die
Zivilgesellschaft. Weinheim 2001.
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