Die konstruktivistischje Didaktik unterscheidet im Blick auf das Lernen konstruktives, re- und dekonstruktives, kreatives, soziales, emotionales, individuelles und situiertes Lernen (vgl. Reich: Konstruktivistische Didaktik). Dabei handelt es sich um Perspektiven auf das Lernen, die sich wechselseitig bedingen und ergänzen. Das situierte Lernen ist eine stark sozial konstruktivistische Perspektive, die aus der neueren Lernforschung entstammt und in unterschiedlichen Ansätzen mit unterschiedlicher Qualität entwickelt wurde. Das situierte Lernen steht in direkter Kombination mit den Methoden der Anchored Instruction, des Cognitve Apprenticeship, des Problem Based Learning, des Cognitive Flexibility-Ansatzes, des Collaborative Learning und der Metakognition. Situiertes Lernen zielt auf die Herstellung kontextbezogener sozialer Lernumgebungungen und umfasst daher ein ganzes Spektrum an Methoden. Im Grunde, so will die konstruktivistische Didaktik folgern, ist situiertes Lernen daher weniger eine konkrete Methode als vielmehr ein Lernanspruch, der insbesondere auf Aspekte der sozialen, kulturellen und auch ökologischen Umgebung der Lerner aufmerksam macht, der jedoch diese Umgebung nicht nur als äußerlich, sondern auch als innerlich ansieht. Insoweit gehören die Communities of Practice im Sinne einer ständigen Partizipation der Lerner, einer Mitbestimmung und Demokratie im Kleinen ebenso zu einer guten Lernumgebung wie ein kooperatives Unterrichtsklima und eine insgesamt auf Eigenaktivität und Selbstbestimmung ausgelegte Didaktik.
Das situierte Lernen knüpft an Klassiker wie John Dewey, Jean Piaget und Lev Vygotsky an. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie die Entstehung, Bedeutung und sinnvolle Vermittlung von Wissen als eine soziale und kulturelle Aufgabe ansehen, da jedes Wissen aus einem kulturellen Kontext heraus entspringt (dies gilt auch für naturwissenschaftliches Wissen) und einen solchen Kontext in der Darstellung und Vermittlung, im Lernen und Artikulationen über dieses Wissen erzeugt. Menschliche Kognitionen stehen damit immer in einem sozialhistorischen Kontext, den zu übersehen eine zu starke methodische Reduktion bedeuten würde. Gegen solche Auffassungen stehen etliche eng empirisch ausgerichtete Forderungen auch von Kognitionspsychologen, die ein stark komplexitätsreduzierendes Vorgehgen favoriisieren, um möglichst eindeutige Forschungsergebnisse präsentieren zu können. Vertreter des situierten Lernens und einer konstruktivistischen Pädagogik und Didaktik halten dagegenen, dass so der komplexe Vorgang sozialer Interaktion und des Lehrens und Lernens in seiner Vielgestaltigkeit unterlaufen und nicht mehr hinreichend beachtet werden kann. Zur Kritik und Gegenkritik vgl, z.B.:
http://www.maa.org/t_and_l/sampler/rs_2add.html
Im situierten Lernen gibt es mittlerweile zahlreiche Ansätze, die auch für die Didaktik relevant sind. Hervorheben wollen wir folgende, wobei die Auswahl nur auf einführende Aspekte abzielt und keinesfalls vollständig ist:
Lave/Wenger betonen die Wichtigkeit der situierten Kognbition für das alltägliche Leben und haben im Cognitive Apprenticeship insbesondere Meister-Lehrlings-Verhältnisse als Basis berufsnaher Ausbildungen untersucht.
Klassisch ist die Einführung von Lave in das situierte Lernen:
http://tip.psychology.org/lave.html
Lave/Wenger/Rogoff und andere haben sich insbesondewre mit Communities of Practice beschäftigt und hierbei der Rolle der Partizipation der Lerner auf allen Stufen des Lernens einen zentralen Ort zugewiesen:
http://de.wikipedia.org/wiki/Community_of_Practice
Rogoff betont dabei insbesondere den Punkt der Partizipation:
http://www.education.miami.edu/blantonw/mainsite/Componentsfromclmer/Component1/Rogoff.1.html
Greeno versteht die situierte Kognition vor allem als ein Anforderungskonzept, das hilft, Lernvorgänge klar zu strukturieren und zu entwickeln:
http://inkido.indiana.edu/syllabi/p500/Greeno_1998.pdf
Suchman bearbeitet insbesondere den Zusammenhang von Plan und Handlung:
http://jupiter.informatik.umu.se/~mjson/hcipd/suchman.html
http://www.dcs.gla.ac.uk/~matthew/lectures/HCI4/11suchman.pdf
cognition.iig.uni-freiburg.de/teaching/ veranstaltungen/ss05/prosem1/lange/suchman5
http://epub.ub.uni-muenchen.de/archive/00000150/
Resnick legt insbesondere Wert, dass die soziale Kognition in Gruppen erworben und geteilt wird (zu Resnick siehe auch unter Anchored Instruction und Cognitive Apprenticeship):
http://www.lrdc.pitt.edu/Publications/authors/pdf/Resnick.pdf
punya.educ.msu.edu/PunyaWeb/ courses/summer05/june29/situative.ppt
Clancey legt Wert auf eine besonders intensive Verbindung von Wahrnehmung, Handlung und Konzeption:
http://cogprints.org/323/00/139.htm
Clancey als PDF
In der "Konstruktivistischen Didaktik" heißt es zu diesen hier exemplarisch ausgewählten Ansätzen: "Betrachtet man diese Ansätze genauer, so fällt auf, dass sehr oft verschiedene Forschungsansätze gemischt werden. So bemüht sich z.B. Clancey darum, sowohl einen funktionalen sozialen Ansatz, Aspekte der neuronalen Forschung und zugleich Ergebnisse des Behaviorismus zu nutzen. Dabei ist der Stellenwert der konstruktivistischen Erkenntniskritik nicht immer deutlich. Unter dem Stichwort eines gemäßigten Konstruktivismus erscheint nicht selten eine Mischung aus Konstruktivismus und Realismus. Aber ich will hier nur auf die für eine konstruktivistische Didaktik besonders relevanten Ergebnisse eingehen, die Theorien zur situierten Kognition entwickelt haben:
Instruktives Lernen, das durch Pläne vorausgesagt wird, entspricht nach Suchman (1987) nicht hinreichend der Flexibilität menschlichen Handelns. Zielgerichtete Handlungen, auf die in der Didaktik oft großer Wert gelegt wird, werden vorrangig durch den Kontext erzeugt, in den sie eingebettet sind. Pläne, Strategien, Konstruktionen gehen nicht den Handlungen voraus und können sie daher auch nicht eindeutig steuern, sondern entstehen aus den Handlungen heraus. Dies ist eine Einsicht, die wir auch schon bei Dewey finden, wobei Suchman die Situationsorientierung gegenüber einer Planungsorientierung allerdings noch deutlicher betont. Dies soll nicht bedeuten, dass Pläne unwichtig werden. Aber wir müssen auch didaktisch begreifen, dass ein Planungsübergewicht völlig unproduktiv wird, wenn kein angemessener Handlungsrahmen gefunden wird, aus dem Pläne situativ Sinn und Geltung beziehen können.
Es ist ein Fehler, das menschliche Gehirn oder Bewusstsein mit einem Computer zu vergleichen, weil dies nicht nur zu Vereinfachungen, sondern auch zu einer falschen Analogie führt. Wissen speichert sich nicht einfach im Gehirn durch Einprägung ab, wie es noch John Locke in der These vom Bewusstsein als tabula rasa erschien. Aus der Sicht der situierten Kognition (z.B. Greeno) drückt ein Wissen die Art von Beziehungen aus, die ein Individuum mit seiner materiellen und geistigen Umwelt in Handlungen unterhält, wobei das Lernen durch begünstigende und begrenzende Einflüsse in einer sozialen Gruppe bestimmt wird. Aus dieser Sicht erweist es sich didaktisch als notwendig, angemessene Lernumgebungen zu entwickeln, in denen Lerner in einer gemeinsamen Praxis („community of practice“) miteinander interagieren. Auch wenn in der Forschung noch viele Fragen offen sind, so zeigt sich in der didaktischen Praxis durchaus, wie erfolgreich Situationen, die einen Problem- und Lösungsdruck beinhalten, für das Lernen sind. Dies war schon bei Dewey und der Begründung von Projekten eine praktische vor dieser forschenden Erfahrung.
Situierte Kognitionen verweisen auf biografische Momente, denn jeder Lerner hat eine Lernbiografie, die ihn in eine besondere Situation stellt. Die Muster und Ergebnisse des Lernens, die ein Individuum angeeignet hat, sind nicht nur für neues Lernen wichtig, sondern werden nach Resnick auch erst dann besonders aktiviert, wenn das Individuum im Blick auf seine bisherige Lernbiografie mit einer neuen Situation konfrontiert wird. Wir können dies auch vorsichtiger ausdrücken: Für die Didaktik erscheint es als sinnvoll, wenn es gelingen kann, einerseits anschlussfähig an die Lernbiografie der Lerner zu bleiben, andererseits aber auch eine Lernsituation herzustellen, die zur Herausforderung für diesen bestimmten Stand, dieses Muster, diese Voraussetzungen werden. Didaktische Planung wird aus dieser Sicht zu einer Situationsplanung, in der allerdings eingeschätzt werden müsste, welche Lernerfahrungen bereits gemacht wurden.
Lernaktivität stellt eine Situation dar, in der Lernen stattfindet. Speicherung im Gedächtnis beschreibt eher ein Ziel, einen Wunsch der Lehrenden, die ein bestimmtes Wissen abgespeichert wissen wollen. Zum Ergebnis einer Abspeicherung kommt es jedoch nur, wenn die Aktivität vorhanden ist. Auch hier ist das menschliche Gedächtnis nicht in Analogie zur Festplatte des Computers zu sehen. Erinnerungen aus der Sicht der situierten Kognition sind vielmehr (z.B. nach Clancey) Koordinierungen eines aktiv sich mit seiner Umwelt auseinandersetzenden Individuums, das sich die Gedächtnisinhalte nicht wie aus einem Warenlager heraussucht, sondern durch Aktivitäten, die situativ ablaufen, rekonstruiert, d.h. aus Wahrnehmungen, Zeichen, Symbolen, Handlungen jeweils neu schafft. Dies mag erklären, weshalb wir im Erinnern immer auch einen neuen Teil von Wirklichkeit dazu erfinden. So erzeugt unser Gedächtnis durch und in der Aktivität von situierter Kognition allenfalls bei leichtesten Reproduktion immer nur dasselbe, aber meistens eine Modifikation, um damit auch sinnvoll auf veränderte Umweltbedingungen reagieren zu können. Für die Didaktik heißt dies, dass insbesondere die Erwartungen an ein bloß reproduktives Lernen kritisch gesehen werden müssen. Das Abprüfen von Gedächtnisinhalten ist zu einfach, wenn nicht neue Situationen einen Transfer des Wissens in eine Rekonstruktion mit neuer Aktivität und Modifizierung führen können. Dies aber gelingt nur bei anwenderbezogenen und konstruktiven bzw. kreativen Aufgaben.
Betrachten wir diese Forderungen, dann erkennen wir viele Gemeinsamkeiten mit einer didaktischen Reformpraxis, in der schon länger erkennbar wurde, wie Lernvorgänge erfolgreich organisiert werden können."
Wenn wir verschiedene Forderungen des situierten Lernen zusammenfassen, dann könnte sich vor allem folgende vereinfachte Liste ergeben: "Lernende sollen untersuchungsähnliche Beobachtungen, Explorationen, gegenseitigen Austausch, Evaluationen durchführen; sie sollen in einer motivierenden Lernumgebung entdeckendes Lernen praktizieren, wobei der Erwerb neuen Wissens dominant sein soll; ein diskursives Verständnis und eine gemeinsame Wissensaneignung sind erwünscht; Partizipation ist ein Schlüssel zum erfolgreichen Lernen; bei geleiteter Instruktionspraxis muss Anschluss an bisheriges Lernen gehalten werden und neue Situationen müssen neues Lernen provozieren." (Aus Reich: Konstruktivistische Didaktik)
Betrachten wir diese Forderungen, so erkennen wir, dass dies schon sehr lange Forderungen in der Reformpädagogik waren und besonders ausgeprägt z.B. bei John Dewey auftreten. Insoweit geht die pädagogische Praxis hier den Forschungen voraus und wird nachträglich durch sie ermuntert und bestätigt.
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