Kurze Beschreibung der Methode
Primäre und sekundäre Quellen
Theoretische und praktische Begründung
Darstellung der Methode
Beispiele
Reflexion der Methode
Praxiserfahrungen

4. Darstellung der Methode

>> 4.1 Einleitung
>> 4.2 Hinführung
>> 4.3 Arbeitstechniken
>> 4.4 Das Material
>> 4.5 Das Klassenzimmer im Grundschulbereich
>> 4.6 Leistungsbewertung und Kontrolle
>> 4.7 Schülerrolle und Lehrerrolle
>> 4.8 Schulorganisatorische Verankerung

 

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4.1 Einleitung

Motto: „Das Kind gestaltet selbst mit unserer Hilfe seine Persönlichkeit“ (Freinet). Freiarbeit gehört wie z.B. Projektunterricht oder Wochenplanarbeit zu der Konzeptfamilie des offenen Unterrichts. Allen gemeinsam ist die Leitidee, dass der Schüler nicht wegen des Lernstoffes, sondern um seiner selbst und der Gestaltung seiner eigenen Persönlichkeit willen lernt. Lernen soll Spaß machen, und es ist Aufgabe des Lehrers, diese Freude am Lernen zu bewahren. Das Unterrichtsgeschehen orientiert sich an den Interessen der Schüler und berücksichtigt dabei deren Ansprüche, Wünsche sowie deren individuelle Fähig- und Fertigkeiten. Bei Freinet, Montessori, Petersen und anderen Reformpädagogen wurde bereits erkannt, dass der Unterricht die Interessen der Schüler umfassend einbeziehen muss. Eigen­ständigkeit, Mitbestimmung und Planungsbeteiligung dienen aber nicht bloß dem Zwecke des individualisierten Lernangebots. Als Lernerfolg gilt auch, wenn der Lernende zur Kom­munikation und Zusammenarbeit mit den restlichen am Lernprozess Beteiligten befähigt wird. Diese Komponente steht insbesondere bei Freinet mit der Wissensvermittlung auf einer Stufe und darf in der Unterrichtsplanung nicht fehlen. Bleibt dies unberücksichtigt, ist die Realisierung einer Lernlandschaft mit einem bunten Lernangebot nicht denkbar. Der Unterrichtsprozess mündet in ein Chaos, wenn die Kompetenz zur Zusammenarbeit weder vorhanden ist noch geschult wird. Durch diesen Anspruch erhält diese Methode eine soziale Note, die im traditionellen Frontalunterricht fast gänzlich zu kurz kommt.
Freiarbeit geht davon aus, dass es dem Lernenden selbst am ehesten gelingt, denjenigen Inhalt auszuwählen, der für ihn die größte Gegenwartsbedeutung hat. So reift er zu einem autonomen und kritischen Menschen heran, der das Geschehen um sich herum zu verstehen und zu reflektieren vermag.
Durch das Kriegsgeschehen in den Hintergrund pädagogischer Bemühungen geraten, wurde das Konzept der Freien Arbeit erst in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wieder aufgegriffen. Damals noch vorwiegend auf private Schulen angewandt, findet sie sich heute auch in einigen Regelschulen, vorwiegend im Primarbereich, wieder. Allerdings erscheint diese Methode im deutschen Sprachraum noch unterrepräsentiert, insbesondere im Sekundar­bereich.
Im Folgenden werden die Aspekte der Hinführung zur Freien Arbeit, die Arbeitsmaterialien, die Lehrer- und Schülerrolle, das Klassenzimmer und dessen materielle Ausstattung, die Leistungsbewertung und die schulorganisatorische Verankerung näher beleuchtet.

 

4.2 Hinführung

Die Hinführung zu einem „freien“ Unterricht bedarf einer sorgfältigen Planung seitens der Lehrer. In der Regel sind die Schüler traditionell in der Weise an dem Unterricht beteiligt, dass sie in Einzelarbeit den Ausführungen des Lehrers mehr oder weniger folgen, und die festgesetzten Ziele zu erreichen versuchen. Eine plötzliche Kooperation mit dem Lehrpersonal oder der restlichen Schülerschaft ist ihnen in solch traditionellen Systemen fremd und ruft Irritationen hervor. Das Schulsystem „von heute“ ist in Deutschland noch überwiegend traditionell ausgerichtet und erzieht den Lernenden noch einseitig eher zu einem Individual­kämpfer. Teamgeist oder Gruppenarbeit werden zu wenig gefördert und praktiziert, vor­herrschend ist der lehrerdominierte Frontalunterricht. Das hat im Blick auf die Freiarbeit mehrere Bedeutungen. So ist z.B. zum einen die Freiarbeit in Vorbereitung und Durchführung arbeits­intensiver und zeitaufwändiger als ein allein inhalts- und reproduktionsorientierter  Unter­richt. Hier muss der Lehrer sich mit den Arbeitstechniken und Lernmethoden vertraut machen, eine neue Lernumgebung mit einem reichen Angebot an vorbereiteten Materialien schaffen und sein hierarchisches Rollenverständnis abstreifen. Zum anderen fehlt es dem Lehrpersonal an Wissen über alternative Lehrmethoden. So reproduziert sich das Schulsystem in den Gewohnheiten der Lehrenden: Sie ahmen das mehr oder minder nach, was sie als eigene (schlechte) Schulzeit am eigenen Leib erfahren und „erfolgreich“ überlebt haben. Das einmal Praktizierte wird beibehalten, die Möglichkeiten eines handlungsaktiveren Unterrichts werden zu wenig erkannt oder schlichtweg ignoriert.
Damit sind Hindernisse bezeichnet, die nur durch eine Einstellungsänderung überwunden werden können. Gibt es eine positive Haltung zur Freien Arbeit, dann muss die konkrete Einführung der neuen Lernform schrittweise und langsam erfolgen. In einem festgelegten, erst einmal kürzeren Zeitrahmen können im Grundschulbereich die Schüler an das selbst­gesteuerte Lernen herangeführt werden. Dieser Zeitrahmen wird nach und nach verlängert, und kann zum Ende der Hinführung bis zu zwei Stunden am Tag einnehmen. Die Freiarbeit muss dann einen festen Platz im Stundenplan bekommen und jeden Tag zu einer wieder­kehrenden Zeit angeboten werden. So erhält sie eine gleichwertige Berechtigung zur her­kömmlichen Unterrichtsform und wird leichter akzeptiert.
Nach der Phase des freien Arbeitens sollte ein Sitzkreis gebildet werden, in dem das Erlebte mit allen zusammen reflektiert wird. Der Sitzkreis dient aber auch zur klaren Abgrenzung zum vorher erfolgten Unterrichtsgeschehen.
Um frei arbeiten zu können, ist es unerlässlich, den Lernenden mit neuen Kompetenzen aus­zustatten. Es müssen Ordnungsregeln gemeinsam gefunden werden, mit denen die organisa­torische Selbstständigkeit gefördert wird. Weiter soll die Förderung auf eine prozessuale, inhaltliche und sozial-kommunikative Ebene erweitert werden, wie in den folgenden Punkten noch dargestellt werden soll. 

 

4.3 Arbeitstechniken

In der Freinet-Pädagogik wird die Freiarbeit von anderen Arbeitstechniken flankiert, die die Freiarbeit beeinflussen, mit ihr zusammenwirken und in sie aufgenommen werden können. Ausgehend vom Leitspruch „Keine Lehrbücher mehr“ setzt Freinet verschiedene Arbeits­techniken ein. Bekannt ist Freinets Schuldruckerei, in der die Kinder ihr Geschriebenes drucken können. Diese Texte basieren oft auf den Erlebnissen der Schüler und sollten lebens- und interessensnah sein. Hier können auch Texte aus der Freien Arbeit gedruckt werden. Die Druckerzeugnisse und andere Unter­richtsprodukte können z.B. Schülern anderer Schulen zugeschickt werden. Heute kann diese Druckerei auch durch Arbeiten mit dem PC ersetzt werden. Diese Korrespondenz ist ein wichtiger Bestandteil der Freinet-Techniken, denn die Arbeit der Kinder wird gewürdigt, die Motivation somit gesteigert und die Erfahrungen anderer vergrößern den eigenen Wissensschatz.
Weiterhin sollte es in der Klasse eine Arbeitsbibliothek geben, in der Schulbücher als Einzel­stücke vorhanden sind und Bücher angeboten werden. So kann sich jeder Schüler je nach Interesse und Wissensstand Informationen besorgen, ohne durch einen Klassensatz an Schul­büchern in seinem Lernen eingegrenzt zu sein.
Individuell gearbeitet wird auch mit Hilfe von Karteikästen. Diese bestehen aus Arbeitsbögen mit Aufgaben oder Fragen zu einem Thema, Antwortbögen zur Selbstkorrektur, Testbögen für die Lehrer und Korrekturbögen für eine zusätzliche Übung bei Fehlern.
Die Inhalte, die von den Schülern bearbeitet werden sollen, werden nicht im Vorhinein vom Lehrer bestimmt, stattdessen entwickeln alle Beteiligten z.B. am Montag gemeinsam Arbeits­pläne/Wochenpläne. Freiarbeit kann hier also auch bedeuten, dass aus einem Auswahlbereich von Arbeiten frei das eigene Vorgehen, Lerntempo, Eindringtiefe bestimmt werden.

 

4.4 Das Material

Das Material (z.B. Karteikarten, Klammerkarten, Dominos usw.) gilt als entscheidendes Element der Freien Arbeit. Hergestellt wird es am besten aus Papier oder Pappe, die sich in Plastik einschweißen lässt. Bei der Herstellung des Materials soll allerdings beachtet werden, dass der Zeitaufwand beim Bearbeiten im Unterricht von den Kindern eingeschätzt werden kann. Zudem muss Wert darauf gelegt werden, dass das Material sehr stabil und dauer­einsatzfähig ist. Nur geeignetes Material regt die Kinder an und ermöglicht selbst­ständiges Arbeiten durch Selbstkontrolle.
Geeignetes Material heißt, dass es im Grundschulbereich kindgemäß und später lernergemäß ist und dem jeweiligen Entwicklungsstand angepasst wird. Es muss eine ausreichende Menge  angeboten werden. Weiterhin sollte das Material allen Lernern zur Verfügung stehen und für jeden zugänglich sein. Also ist es z.B. so im Regal zu platzieren, dass selbst die Kleinsten ihr gewünschtes Arbeitsmittel erreichen können. Zudem sollte es auch für alle im Raum sichtbar sein. Bei der übersichtlichen Platzierung ist es wichtig, darauf zu achten, dass dem Material ein geeigneter und fester Platz im Raum zugeteilt wird, an dem es immer auffindbar ist. Diese sichere und verlässliche (An-)Ordnung der Materialien wirkt einer Verunsicherung der Kinder entgegen. Wichtig ist auch, dass der Schwierigkeitsgrad für alle Kinder einsichtig und zu bewältigen ist. Die Abstimmung der Mannigfaltigkeit des Angebots spielt auch eine große Rolle. Denn jedes Kind soll die reichhaltige Vielfalt einer fächerübergreifenden Bildung er­halten. Hierbei ist zu beachten, dass das Material aufeinander aufgebaut und nicht einfach „wild zusammengewürfelt ist“.
Bei der Zusammenstellung des Materials muss ein Überangebot vermieden werden, denn sonst besteht die Gefahr einer Überreizung und Orientierungslosigkeit, die das Interesse und die Neugier des Kindes/Lerners mindern. Um hingegen Interesse und Neugier zu fördern, ist es wichtig, dass das Material Anreiz- und Spielcharakter besitzt und auch optisch anspricht. Weiterhin sind folgende Aspekte bedeutsam: Die Aufgabenstellungen sollte motivieren, mit dem Angebot sollten mehrfache Einsatzmöglichkeiten gewährleistet und verschiedene Lösungs­möglich­keiten der Aufgaben sollten vorhanden sein. Im Blick auf den sozialen Umgang stellt es zudem einen wichtigen Faktor dar, dass das Material zur Kooperation anregt.
Nicht mehr benutztes Material sollte ausgelagert werden und Platz für neues machen. Das Angebot muss auf jeden Fall mit der Zeit wachsen und sich verändern, da auch immer neue Methoden, Ideen, Themen usw. in den Vordergrund rücken. Um einen Überblick über das gesamte Material zu behalten, ist es für Freinet im Grundschulbereich sehr sinnvoll, von Beginn an eine Unterteilung in die Bereiche Sinne, Gestalten, Lesen, Schreiben, Rechnen, Sachunterricht und Spielen vorzunehmen. Zudem sollte noch eine Auflistung über das vorhandene und weggefallene Material erstellt werden. Bei allen Materialarten/-formen geht es vorrangig um eine selbst kontrollierte und handelnde Beschäftigung.

Materialbeispiele aus dem Grundschulbereich:
Farbplättchen ordnen, Gewichte vergleichen
Figuren& Grundformen auslegen, weben
Steckkarten, Buchstaben fühlen
Lese- und Schreibpuzzle, Grammatikübungen
Rechenbingo, Rechendomino
Experimente machen, Karten ordnen
Merkspiele, Geschicklichkeitsspiele

 

4.5 Das Klassenzimmer im Grundschulbereich

Das Klassenzimmer sollte einerseits von der Gemütlichkeit eines Wohnzimmers oder Kinder­zimmers geprägt sein und andererseits von der „bildsamen“ Arbeitsatmosphäre eines Schul­raumes. Es ist wichtig, dass das Klassenzimmer nicht nur Lern- und Arbeitsraum ist, sondern auch etwas Wohnliches hat. Das Kind soll sich mit „seinem“ Zimmer identifizieren und sich gerne darin aufhalten. Dadurch steigern sich auch seine Bereitwilligkeit und sein Interesse am Lernen.
Beim Einrichten eines Klassenzimmers ist darauf zu achten, dass aufgrund der Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Tätigkeiten, die in der Freien Arbeit stattfinden, verschiedene Zonen eingeteilt werden. Diese Zonen kann man zum Beispiel durch Raumteiler zunächst in Aktions- und Ruhezonen gliedern oder noch differenzierter in einen:
            Erfahrungsraum
            Bastel- und Ausstellungsraum
            Experimentierraum
            einen Musikbereich
            einen Spielbereich
            eine Lesestube

Die Möblierung der einzelnen Zonen richtet sich nach deren entsprechenden Funktion, zugleich wird Platz für Material-Depots bereitgestellt. Vor allem muss beim Einrichten der Zonen darauf Wert gelegt werden, dass die Zonen nicht nur der Gemütlichkeit und dem Wohlbefinden gerecht werden, sondern auch den Erfordernissen und Zielen der Freien Arbeit angepasst werden.
Eine besondere Rolle spielt die Positionierung des Materials und seine übersichtliche Anordnung und gute Erreichbarkeit für alle Kinder. Ein für das ungezwungene Lernen bedeutsamer Faktor ist eine aufgelockerte Sitzordnung, durch die schon äußerlich starre oder hierarchische Strukturen aufgebrochen werden. Schon in Bezug auf die Sitzgelegenheiten, aber auch in Hinsicht auf die restliche Einrichtung kann man darauf achten, dass das Klassenzimmer nicht in einem schultypischen Stil möbliert wird. Dieses trägt zu einer entspannteren Atmosphäre bei. Auch die Dekoration des Klassenzimmers sollte sich hieran orientieren. Es bietet Vorteile, wenn dekorative Aufgaben von den Kindern selbst über­nommen werden: Das hebt die Begeisterung an der Gestaltung des Klassenzimmers und motiviert.
Möglicherweise kann man auch das Klassenzimmer von Zeit zu Zeit umgestalten. Bei dieser Gelegenheit würde es sich anbieten, die Eltern um Mithilfe zu bitten. Dabei können zudem direkt Verbindungen zwischen dem Elternhaus und der Schule geknüpft werden.
In der Sekundarstufe mit einem hohen Anteil an Fachlehrern ist es sehr schwierig, ein solches Klassenzimmer noch einzurichten. Reformpädagogisch orientierte Schulen schaffen dies allein dadurch, dass sie nicht zu viele Fachlehrer in der Sekundarstufe einsetzen und ein gemeinsames Konzept entwickeln.

 

4.6 Leistungsbewertung und Kontrolle

In einer offenen Unterrichtsform wie der Freien Arbeit ist eine gezielte, direktiv vom Lehrer gelenkte Förderung des Einzelnen, die einen eng kontrollierenden Überblick über die individuell geleistete Arbeit zu gewähren scheint, nicht möglich. Dies ist aber auch nicht die Idee, die hinter der Methode steckt. Dennoch bleibt es für ein Kind sehr wichtig, dass es auf irgendeine Weise Bestätigung für seine Arbeit bekommt. Für die Lehrer erscheint es insofern wichtig zu wissen, was das Kind selbstständig erarbeitet hat, um den Entwicklungsstand zu verfolgen und einschätzen zu können. Daher muss die geleistete Arbeit dokumentiert werden. Dies sollte auf jeden Fall vom Kind selbst vorgenommen werden und aus diesem Grund auch kindgemäß angelegt sein. Für die Dokumentation gibt es verschiedene Möglichkeiten, wobei hier nur einige Anregungen dargestellt werden. Welche dieser Organisationsformen sich der Lehrer aussucht, ist individuell  verschieden.
Oft besitzen die Kinder Listen, in die sie eintragen, was sie geleistet haben, und lassen diese dann beim Lehrer abstempeln. Oder es werden Aufgabenlisten zentral im Klassenzimmer aufgehängt und jeder trägt seinen Namen nach der Bearbeitung des Materials im ent­sprechenden Feld ein. Die Nachteile dieser zentralen Tabellen sind zum einen die kompli­zierte und unübersichtliche Führung und zum anderen der leicht entstehende bloß äußerliche Wettkampf zwischen den Schülern. Manchmal hat auch jedes Kind ganz einfach einen eigenen Ordner oder eigenes Heft, in dem es seine fertigen Aufgaben abheftet. Hier ließe sich auch eine gezielte Verbindung mit Portfolios herstellen.
Es gibt auch eine Art der Dokumentation bei der das Kind seine Arbeit nachweisen kann und gleichzeitig auch animiert wird, in bestimmten Bereichen tätig zu werden. Dieses System ist der Aufgabenkasten. Dieser ist ein Holzkasten, der z.B. in die Bereiche Sinne, Gestalten, Lesen, Schreiben, Rechnen, Sachen und Spielen unterteilt ist. Die Materialien dieser Bereiche sind auf Karteikarten festgehalten, an denen sich kleine „Schnipsel“ befinden. Wenn das Kind ein Material bearbeiten möchte, holt es sich zunächst die Karte und dann das Material. Wenn sich die Karte also nicht mehr im Kasten befindet, signalisiert das dem nächsten Kind, dass das gewünschte Material vergriffen ist. Beim Wegstellen des Materials und der Karte reißt sich das Kind einen Schnipsel ab, versieht diesen mit dem Datum und klebt ihn in sein Heft hinein, das auch in die entsprechenden Bereiche gegliedert ist. Somit dokumentieren die Kinder auf motivierende Weise ihre Arbeit und der Lehrer kann sich die Arbeiten anschauen. Falls ein Bereich einmal nicht bearbeitet werden soll, dann nimmt der Lehrer diesen Bereich einfach aus dem Kasten heraus.
Eine weitere Art der Dokumentation ist das Gespräch oder der Gesprächskreis im Anschluss an die Freiarbeit. Hier können die Kinder sich über ihre Leistungen in der vergangenen Stunde austauschen (siehe schulorganisatorische Veran­­kerung).
Neben diesen offenen Formen der Leistungskontrolle könnte auch ein Test Anwendung finden. Dabei muss allerdings im Einzelfall der pädagogische Nutzen geklärt sein, denn die Freiarbeit ist weniger eine Arbeit für Tests von außen als vielmehr für ein selbstständiges testen durch den Lerner. Wichtig ist es noch einmal zu betonen, dass es bei der Dokumentation vor allem um eine individuelle Orientierungshilfe für die nächsten Lernschritte gehen sollte.
Auch Freinet stellt fest, dass Examen in der Gesellschaft unerlässlich sind. Er übt jedoch stark Kritik an der gängigen Praxis der Leistungsbewertung, bei der nur ein kleiner Ausschnitt (wie z.B. Rechtschreibung, Auswendiglernen) geprüft wird, da viele Aspekte des Leistungs­spektrums hierbei unberücksichtigt bleiben. Da die Freinet-Pädagogik als „Arbeitspädagogik“ bezeichnet wird, in der weniger abstrakte Fähigkeiten, sondern das Hantieren mit Werkzeugen und Arbeitstechniken im Vordergrund steht, setzt Freinet seinen pädagogischen Schwerpunkt auf damit verbundene Fähig- und Fertigkeiten. In seiner „Liste der pflichtmäßig zu er­werbenden Fertigkeitsbescheinigungen“ nennt er z.B. „Schriftsteller, Lektüre, gute Sprach­beherrschung, Historiker, Geograph, Hydroingenieur, Spezialist für Luftangelegen­heiten, Pflanzenkundler, Insektensammler, Fachmann für Mineralien, Brandmeister“. Dazu kommen noch Fertigkeiten untergeordneter Bedeutung wie „Imker, Koch, Elektriker, Chemiker“ usw. Diese eher älteren Bezeichnungen müssen jeweils den Lerngruppen in der Gegenwart sinnvoll angepasst werden. Bei den Bezeichnungen sollten die Lerner in der Auswahl der Begriffe beteiligt werden.
In gewissen Abständen sollten die Lerner ihre Arbeiten vorstellen, wobei der Lehrer oder/und Lernende diese beurteilen und Fertigkeitsbescheinigungen ausstellen, die dann z.B. feierlich unter Einschluss der Eltern verliehen werden können.

 

4.7 Schülerrolle und Lehrerrolle

Die Hinführung zur Freien Arbeit bedeutet auch, die Rolle des Schülers, wie sie in der „klassischen“ Didaktik vorgegeben wird, zu überdenken. Hier ist der Schüler ein Empfänger von Lehrinhalten, die von dem Lehrer für den Lernprozess zur Verfügung gestellt werden. Der Lehrer hat (freilich auch begrenzt durch Lehrpläne usw.) ein Entscheidungsmonopol hinsichtlich seines didaktischen Vorgehens und rechtfertigt seine Entscheidungen nicht zwingend vor der Klasse bzw. den Schülern. Er bestimmt über alle Lehr- und Lern­entscheidungen. Zunächst macht er sich Gedanken über das zu behandelnde Unter­richts­thema. Er bemüht sich, einen möglichst interessanten Einstieg in das Thema zu finden, um auch alle Kinder dafür zu begeistern. Darüber hinaus plant er auch die Unterrichtsform: Klassengespräch, Gruppen-, Partner-, oder Einzellarbeit. Während des eigentlichen Unter­richts ist er diejenige Instanz, die über die Wichtigkeit der Schüleräußerungen bestimmt: Welche bringen seinen Unterricht voran und welche sind eher nebensächlich. Planungs­beteiligung aller am Unterricht involvierten Personen, so wie es die Freiarbeit erfordert, findet nicht statt. Alle Lernanstöße haben ihren Ursprung in den Gedanken und Geschicken des Lehrers. Gemäß ihren Zielen will die Freiarbeit jedoch gerade jene Fähigkeiten entfalten, die ein eigenständiges Aufbauen der individuellen Persönlichkeit ermöglichen. Hierzu bedarf es einiger Reformen in der Lehrer-Schüler Beziehung. Der Freien Arbeit liegt ein Verständnis zu Grunde, welches den Lehrer nicht mehr als eine alles lenkende Person ansieht, sondern als Begleiter und Berater in einem Prozess der Persönlichkeitsentfaltung. Um dieser neuen Rolle gerecht zu werden, reicht es nicht mehr aus, nur inhaltliche Kompetenzen in seinem Fach zu haben. Die gewünschten Veränderungen betreffen auch die persönlichen und beziehungs­orientierten Fähigkeiten des Erziehers. Montessori nennt hier drei wichtige Kompetenzen: Geduld, Achtung und Liebe. Nur vor dem Hintergrund dieser sozialen Kompetenzen wird jedem Kind das eigene Entwicklungs- und Lerntempo zugestanden, ohne wichtige Ent­wicklungsfortschritte zu übergehen. Darüber hinaus soll der Lehrer bzw. die Lehrerin seine/ihre Einstellung zu den Kindern einer laufenden Prüfung unterziehen. „Statt des Redens muss sie das Schweigen lernen, statt zu unterrichten muss sie beobachten; statt der stolzen Würde dessen, der unfehlbar erscheinen will, muss sie das Kleid der Demut anziehen.“ (Montessori 1976). Aus diesem Grund ist auch bei der Benutzung der Begriffe Schüler und Lehrer, die üblicherweise eher das klassische Rollenverhältnis zwischen einem Wissens­experten und einem untergeordneten Unwissenden implizieren, eigentlich ein Lernender und Lehrender gemeint. Dabei bestimmt der Lernende selber in Eigen­verantwortung, wie lange er an welchem Lerngegenstand in den Phasen der freien Arbeit lernt. Ihm wird eine Selbst­ständigkeit in der Planung, der Ausführung und der Durchführung seiner Lernaktivitäten eingeräumt. 
In der Beziehungsorientierung der konstruktivistischen Didaktik finden solche Ansätze heute eine neue Aufnahme und Erweiterung. Statt einer Pädagogik vom Kinde aus wird hier ein Ansatz entwickelt, der die Sozialisation und das Lernen des Menschen umfassender reflektiert. Insbesondere durch die Klassiker Piaget, Vygotsky und Dewey angeregt, unter starkem Bezug auf die sozial-kognitive Psychologie der Gegenwart und eine auch sozial­wissenschaftliche Reflexion der Lernsituation versucht diese Didaktik, eine kontextbezogene Beziehungsarbeit auf breiter Basis zu ermöglichen (vgl. dazu insbesondere Reich: Konstruk­tivistische Didaktik).
Wenn sich ein Lehrer (Lehrender) nun dazu entschließt „seinen bisherigen Pfad zu verlassen“, wie soll er das am besten bewerkstelligen? Wie bei der Darstellung der Hinführung schon aufgezeigt wurde, ist in dem konkreten Unterrichtsgeschehen eine langsame Vorgehensweise am geeignetsten. Im Rahmen der generellen Umwandlung des Rollenverständnisses sollte der Lehrer einen Weg einschlagen, der der Situation und seiner Persönlichkeit entspricht. So kann ein Öffnungsprozess im Hinblick auf die Lehrerrolle einmal schneller, stürmischer ablaufen. Oder auch ganz sachte, ruhig und langsam. Im Mittelpunkt aller Lehreraktivitäten soll aber die Orientierung an den Interessen, Ansprüchen, Wünschen und Fähigkeiten der Schüler stehen. Findet all dies seine Berücksichtigung unter ständiger Selbstreflexion des Lehrers, ist die Verwirklichung einer neuen Schüler-Lehrer Zusammenarbeit gut zu realisieren, wie viele Erfahrungsberichte zeigen.

 

4.8 Schulorganisatorische Verankerung

Für Kinder ist es sehr wichtig, einen Rhythmus, eine gewisse Ordnung in ihrem Schulalltag wieder zu finden. Deshalb sollte die Freiarbeit zu einer immer wiederkehrenden Zeit in den Stundenplan eingebunden sein. So erfährt sie eine Gleichstellung zu den restlichen, im Unter­richt praktizierten Methoden und verliert schneller den Exotenstatus. Ängste erzeugende und die freie Entfaltung hemmende Unsicherheiten sollen durch den verlässlichen Rahmen minimiert werden. Das begünstigt positive Verhaltensweisen, die beispielsweise Aggres­sionen vorbeugen. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass der Lehrer genau plant, wie er den geschlossenen und offenen Unterricht einsetzt, da innerhalb eines normalen Unterrichtstages verschiedene Unterrichtsformen angewendet werden.
Der Lehrplan sollte neben seiner besonders in Deutschland immer noch überstarken Tendenz, Ordnung herzustellen und Wissen überzubewerten, flexibler und offener gestaltet werden. Hier könnten sich die Lehrenden gegenwärtig mehr Freiheiten nehmen, als sie es in der Regel noch tun. Treten  einmal Probleme innerhalb einer Unterrichtsform auf, so sollten diese Störungen Vorrang haben und zunächst muss die Störung geklärt werden, bevor man sich dem regulären Lehrplan wieder zuwendet.
Freie Arbeit muss mit dem regulären Unterricht verzahnt werden. Es sind zwar jeweils völlig eigenständige Bereiche, die jedoch im Sinne eines Ganzen zusammenwirken, um so zu dem gewünschten Resultat zu führen.
Die Freiarbeit könnte z.B. morgens stattfinden. Sie kann zwischen 10 Minuten und 2 Stunden (im Grundschulbereich) dauern. Um wirklich konzentriert in der Zeit der Freien Arbeit zu arbeiten, wäre es ratsam, eine ruhige und entspannte Vorphase zur Einstimmung auf die Freiarbeit einzuführen. Beispielsweise können verschiedene Verhaltensformen zur Arbeits­ruhe, zum Arbeitsverständnis, zum Zuhören, zum Bewegen im Raum, zur Interaktion und wechselseitigen Beziehungen spielerisch trainiert werden. Geeignete Spiele wären hierfür z.B. Blinde Kuh, Flüsterpost, Stühle- Transport- Ordnung, Dienstmann, Ratespiele usw.
Da es innerhalb der Freien Arbeit keinen unmittelbaren Lehrplan gibt und der Lehrer in den Hintergrund tritt, muss es Regeln geben, die jedes Kind befolgt. Das Durchführen von Regeln und Ritualen ist eine entscheidende Grundlage für das Gelingen der Freien Arbeit. Dies fordert konsequentes Verhalten auf Seiten der Lehrenden und Lernenden, doch es erleichtert die Arbeit in einer freundlichen und ruhigen Atmosphäre, durch die sich die Kinder sicher und geborgen fühlen und daher produktiv und frei agieren können. Regeln und Rituale sind z.B. leise sprechen und bewegen, anderen helfen, das Material ordentlich behandeln und an seinen Platz zurück stellen, aufräumen usw.
Im Anschluss an die Freiarbeit sollte immer ein Gespräch oder Gesprächskreis stattfinden.  Hier wird den Kindern Gelegenheit gegeben, zu der vergangenen Freiarbeitsstunde Stellung zu nehmen. Sie können Bezug nehmen auf das Material, das sie bearbeitet haben, auf die Zeit, die ihnen zu Verfügung stand, auf Partnerarbeiten und vieles mehr.
Diese Kreisgespräche führen die Kinder nach ihrer individuellen Arbeit wieder als Klasse zusammen. Das hat eine große Bedeutung für das Wir-Gefühl der Klassengemeinschaft. Außerdem wirkt es auch positiv auf den sozialen Umgang innerhalb der Klasse, ist hilfreich, um Anregungen für neue Arbeitsmittel zu finden, trägt zum Informationsaustausch und der Integrationsfunktion gegenüber verschiedenen Blickweisen und Positionen zu einem gemein­samen Ergebnis bei. Insbesondere sollte der Gesprächskreis am Anfang und am Ende der Woche (Montag & Freitag) gebildet werden, da er eine Analysefunktion über die erbrachten Arbeiten der vergangenen Woche gewährleistet und Anhaltspunkte liefert, um sich neue Ziele und Aufgaben für die bevorstehende Woche in der Freien Arbeit zu setzen.