4. Darstellung
der Methode
>>
4.1. Durchführung, Ablauf
>> 4.2. Rollenverhältnis von Lernenden und Lehrenden
>> 4.2.1. Lernende
>> 4.2.2. Lehrender
>> 4.3. Arbeitstechniken, Methoden
>> 4.4. Übungen
>>
1. Themenbereich: Einführung, Kennen lernen,
Aufwärmen, Entspannung
>> 2. Themenbereich: Familie
>> 3. Themenbereich: Kindheit
>> 4. Themenbereich: Schule
>> 5. Themenbereich: Ausbildung/ Beruf
>>
6. Themenbereich: Zeitgeschichtlicher Kontext
>> 7. Themenbereich: Selbstbild
>> 8. Themenbereich: Körper
>> 9. Themenbereich: Frau - Mann
>>
10. Themenbereich: Lebensgeschichte im Überblick
>> 11. Lebensbaum
>> 12. Dialekte
>> 13. Lebensspruch
>> 14. Bildbände
>> 15. Weitere
>> 4.5. Material
>> 4.6. Räumlichkeiten
Die Methode des biografischen Arbeitens, die in unterschiedlichen Praxisfeldern zum Einsatz kommt, kann neben den Bereichen wie Jugendarbeit, Erzählcafés usw. auch äußerst effektiv in der Schule, Fach- und Hochschule angewendet werden. Das resultiert nicht nur daraus, dass die Übungen der Biografiearbeit eigenes Verstehen und Fremdverstehen ermöglichen, sondern auch den Einstieg in Unterrichtsthemen interessanter gestalten lassen oder vertiefen können. Biografiearbeit kann hervorragend im Bildungs- und Ausbildungsbereich eingesetzt werden, weil die Methode einerseits sinnvoll für die Reflexion auf das eigene Lernen im Kontext der Biografie eingesetzt werden kann und andererseits sowohl in Gruppenarbeit als auch in Einzelarbeit durchführbar ist (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 56 f.) Dabei sind die Arbeitstechniken, die Übungen und der Ablauf der Methode äußerst variabel und nicht auf bestimmte Praxisfelder oder Personenkonstellationen ausgerichtet. Je nach Situation muss der Lehrende allerdings sein Vorhaben individuell auf die Lernenden und das Umfeld abstimmen.
Biografiearbeit hat immer Entwicklung und individuelles Wachstum (ein Mehr an Lebenschancen, Perspektivvielfalt und Lösungen), eine Erhöhung von Eigenständigkeit, Reflexion und kritische Horizonterweiterung zum Ziel, egal in welchem Umfeld oder in welchen Konstellationen sie durchgeführt wird. Allerdings sind diese Ziele mitunter durchaus ambivalent, weil es auch bedeuten kann, dass wir die Gewissheit einer vermeintlichen sicheren Deutung oder Identität bezweifeln oder verlassen müssen.
In den weiteren Darstellungen der Methode des biografischen Arbeitens gehen wir von einer Gruppenarbeit (mit Einzelarbeitsphasen) in einem Seminar/in einer Klasse aus, das keinem bestimmten Praxisfeld zugeordnet wird.
4.1 Durchführung, Ablauf
Die Methode des biografischen Arbeitens benötigt, um gelingen zu können, ein konstruktives Klima und eindeutige Vereinbarungen über Sinn, Ziele und Verhaltensregeln zwischen den Lernenden und Lehrenden. Zu solchen Vereinbarungen oder Regeln, die im Vorfeld gemeinsam abgesprochen oder dargelegt werden müssen, gehört zum Beispiel das gestufte methodische Verfahren, welches besagt, dass meistens erst in Einzelarbeit, dann in Partner- oder Kleingruppenarbeit und erst dann im Plenum biografisch gearbeitet und sich ausgetauscht wird. Diese Vorgehensweise hat zum Ziel, dass jeder Lernende, soweit er sich dazu im Stande fühlt, sich mit seinen Erfahrungen und Geschichten in das Plenum einbringen kann. Weiterhin besteht beim biografischen Arbeiten die Regel, dass niemals irgendwelche Benotungen im Blick auf persönliche Reflexionen vergeben werden, da diese die Lernenden unter Druck setzen und sie möglicherweise zu Aussagen oder Handlungen drängen, zu denen sie ohne Bewertungen nicht gekommen wären
(http://www.dialogische-fachdidaktik.de/1.7BIOGRA%20L.pdf, 20).
Außerdem sollte den Lernenden zu Beginn des biografischen Arbeitens verdeutlicht werden, dass die gemeinsame Arbeit an der individuellen Biografie nur über einen kurzen Zeitraum stattfindet, der Lehrende sich dabei schrittweise zurückzieht und die Lernenden alleine die Arbeit an ihrer Lebensgeschichte oder fremden Lebensgeschichten fortsetzen, sofern sie sicher mit den Übungen und Methoden der Biografiearbeit umgehen können (vgl. Vogt in Schulz 1996, 47). Die gemeinsame Arbeit an der individuellen oder fremden Lebensgeschichte kann zum Beispiel bei konflikthaften Erlebnissen, Wendepunkten im Leben oder auch beim Neuüberdenken phasenspezifisch erfolgen.
Bei der Arbeit mit Fremdbiografien ist insbesondere ein Konzept sinnvoll, indem in Gruppenarbeit verschiedene Perspektiven (z.B. anhand von Rollenkarten) recherchiert und eingenommen werden, um sie dann im Plenum oder bestimmten gespielten Entscheidungssituationen zum Einsatz zu bringen.
Vor Beginn eines Biografiearbeitsseminars hat der Lehrende die Aufgabe, sich um angemessene Räumlichkeiten zu bemühen, das erforderliche Material für die Übungen zu beschaffen, sich mit den Übungen und deren Durchführung vertraut zu machen und einen Fragenkatalog für die Lernenden vorzubereiten.
Der Einstieg in ein Seminar ist immer unterschiedlich. Wichtig ist zu Anfang ist in allen Fällen, dass die Lernenden sich nicht zu stark von ihren Gedanken und Überlegungen leiten lassen und die Bearbeitung ihrer oder der fremden Biografie nicht zu „kopflastig“ angehen. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, die ersten Aufgaben in Phasen oder Problemfelder zu unterteilen, spielerisch oder die Gefühlsebene ansprechend zu gestalten. Der Aufbau und die Planung eines biografischen Seminars bezüglich der einzelnen Übungen und Methoden, und ob alleine oder in einer Gruppe zusammengearbeitet wird, muss vom Lehrenden im Voraus sehr gut überlegt und organisiert werden. Dabei ist es sehr hilfreich, wenn der Lehrende die einzelnen Lernenden bezüglich ihres Alters, dem Bildungsstand, der Vorerfahrungen, der Gruppengröße usw. einschätzen und das Vorgehen des Arbeitens danach ausrichten kann. Der Aufbau eines solchen Seminars, insbesondere das Zusammenstellen und aufeinander Abstimmen der Übungen ist nicht ganz einfach und bedarf einiger Erfahrungen seitens des Lehrenden. Dieser muss bei der Zusammenstellung der Übungen zum Beispiel berücksichtigen, wo sich die Lernenden gedanklich und gefühlsmäßig gerade befinden, oder dass zwischen den Übungen ein Methodenwechsel stattfindet, damit individuelle Vor- und Nachteile innerhalb der Übungen ausgeglichen werden und die Arbeit mit den Übungen keine ermüdenden Auswirkungen auf die Lernenden hat.
Die Zusammenstellung und Abfolge unterschiedlicher Übungen, die aus den verschiedenen Themenschwerpunkten stammen, könnten wie folgt gegliedert sein:
1. Kennlernübungen
zum Beispiel zu Erfahrungen mit der Herkunftsfamilie,
Szenen zum Thema Beziehungsstruktur,
zu Interaktionsmustern,
zu Normen und Werten
2. Einzelne Fragestellungen und Übungen zum Thema Kindheit und Jugend
zum Beispiel zu Spielen, zur Familienkultur und -geschichte
3. Fragen und Übungen zu Schule, Ausbildung, Beruf
4. Fragen und Übungen zum Selbstbild, Selbstwertgefühl und zu Lebensentwürfen
5. Fragen und Übungen zu Einordnungen in die Zeit (z.B. politisches Geschehen)
6. Fragen und Übungen zur Geschlechtlichkeit des Körpers und dessen Gedächtnis.
Fragen und Übungen eignen sich sowohl zur Strukturierung der eigenen wie zur Analyse von fremden Biografien. Unter 4.4 sind solche Übungen zusammengestellt. Zuvor sollen einige allgemeine Hinweise gegeben werden.
Zu Beginn jeder neuen Übung sollte der Lehrende ganz kurz, klar, präzise und möglichst frei gesprochen das Thema und die Zielrichtung der Übung ankündigen, ohne deren Inhalt im Detail durch ein Beispiel vorweg zu nehmen. Dadurch können die Lernenden sich darauf einstellen, was sie als nächstes erwartet, ohne bereits auf ein bestimmtes Beispiel fixiert zu werden. Die Übungen lassen sich sehr gut in Einzel- oder Partnerarbeit bewerkstelligen. Bedeutsam ist innerhalb des Arbeitens, dass jeder Lernende sich für seine Übungen genug Zeit nehmen und sich gegebenenfalls an einen ruhigen Ort im Raum zurückziehen kann (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 12, 44, 62 ff.).
Die Durchführung der Übungen kann gerade bei der Biografiearbeit den vorgesehenen Zeitplan überschreiten, selbst wenn dieser vom Lehrenden im Vorfeld bereits großzügig kalkuliert worden ist. Daher muss öfter vor Ort der Zeitplan und somit der gesamte Seminarablaufplan ummodelliert werden, um Alternativen Platz zu machen. Der Lehrende sollte auf solche Situationen immer vorbereitet sein, um tatsächlich Alternativen anbieten zu können. Eine Möglichkeit wäre auch, die Gruppe entscheiden zu lassen, ob sie sich auf ein bestimmtes Thema einlassen, sich in die Erfahrungen eines Individuums vertiefen oder dem vorgeschlagenen Ablauf folgen möchten. Wichtig ist dabei aber, dass der Lehrende die Gesamtsituation und die ungefähre Einhaltung des Zeitplans im Auge behält. Unter Umständen muss er, wenn es die Situation erfordert, einschreiten und die Gespräche auch begrenzen. Bei der Platzierung der Übungen innerhalb des zeitlichen Rahmens sollte der Lehrende immer darauf achten, dass gefühlsmäßige Übungen so angeordnet werden, dass noch genügend Zeit am Schluss bleibt, um diese zu bearbeiten und auszuwerten. Am Schluss einer gut überlegten Übungssequenz stehen Übungen, die das Seminar harmonisch ausklingen lassen und Möglichkeiten für Veränderungen signalisieren. Sehr befriedigend wirkt sich am Ende des Seminars eine gemeinsame Gesprächsrunde auf alle Beteiligten aus. Dabei können sich die Lernenden z.B. an folgenden Fragen orientieren:
- Wie geht es mir jetzt?
- Was war wichtig für mich, was habe ich erfahren/gelernt?
- Wie und an welchen Themen usw. möchte ich weiter arbeiten?
Mit solch einem Gruppengespräch kann auch bei dem nächsten Treffen der Gruppe angesetzt werden, wobei Fragen, wie zum Beispiel
- Wie ist es mir nach dem letzten gemeinsamen Treffen gegangen?
- Was ist in der Zwischenzeit geschehen, was war wichtig für mich?
- Wie geht es mir jetzt?
den Einstieg erleichtern.
Neben der Übung spielt deren Auswertung eine besondere Rolle. Im Grunde führt die Übung zur Auswertung hin. Die Auswertung hat einen hohen Stellenwert. Die Auswertung, in der während der Übungs- und Auswertungszeit Erlebtes und Gedachtes festgehalten wird, kann in Form von Tagebüchern, Protokollen, Wandzeitungen, einfachen Zetteln, oder auch in vorbereiteten Fragebögen ausgeführt werden. Wichtig ist dabei aber, dass die Auswertung in jedem Fall schriftlich erfolgt. Die Lernenden sollen sich gedanklich und in aller Ruhe mit ihrer Auswertung beschäftigen können, denn dadurch wird ein besseres Ergebnis erzielt, als wenn die Auswertung mündlich und somit auch schneller und ungenauer vollzogen werden würde. Die Auswertung kann in Einzelarbeit oder auch in Klein- und Großgruppen durchgeführt werden, wobei Großgruppen mit mehr als 15 Lernenden schwieriger zu gestalten sind. In einer Großgruppe dauert die Auswertungsphase auf jeden Fall länger als in Kleingruppen. Dieses trifft vor allem zu, wenn sich die Lernenden untereinander gut kennen. Wird die Auswertung in Kleingruppen durchgeführt, empfiehlt es sich, dass die Arbeitsgruppen mehrere Male neu gemischt werden, wobei ein positiver Effekt bei der Arbeit in kleineren Gruppen darin besteht, dass ein intensiver und intimer Austausch der individuellen Erfahrungen stattfinden kann. Außerdem können die Lernenden in Kleingruppen besser und schneller Kontakte herstellen als in Großgruppen.
Nach der Arbeit in kleinen Gruppen ist es sinnvoll, wieder zu der Arbeit in Großgruppen überzugehen, da ein Wechsel zwischen diesen beiden Arbeitsvarianten nicht nur lockerer ist, sondern auch einen größeren Lerneffekt durch den höheren und vielfältigeren Austausch von Erfahrungen bewirkt. Jedoch sollte der Lehrende auch bei der Auswertung, egal ob in Klein- oder Großgruppen, den Zeitplan nicht überstrapazieren (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 65 ff.).
Die Arbeit in Klein- und Großgruppen basiert aber nicht nur auf den Übungen und deren Auswertung, sondern auch darauf, dass ein Lernender von sich und seinen Erfahrungen erzählt und die anderen Lernenden und der Lehrende dem Erzählendem ihre völlige Aufmerksamkeit schenken, ihn auf verschiedenen Ebenen wahrnehmen und daraus lernen. Die Wahrnehmungsebenen beziehen sich zum Beispiel auf die Fragen:
- Was nehme ich an dem Erzählenden wahr, während er spricht?
- Wie geht es mir mit dem, was er erzählt?
- Wo sind in den Erzählungen Brüche, Widersprüche oder wo fehlt etwas?
- Was fällt mir zum Erzählten ein?
Dabei ist es äußerst wichtig, dass jeder Lernende bei sich bleibt, also zwischen dem eigenen Erlebten und dem Erlebten des anderen unterscheidet. Außerdem sollen die Zuhörenden den Blick auf die gesamte erzählende Person richten, und diese, ihre oder eine fremde Lebensgeschichte und deren Entwicklung verstehen können, um später gemeinsam Bewältigungsstrategien für die Zukunft oder Interpretationen über eine Situation zu finden. Die Lernenden müssen in der Arbeit an der eigenen oder fremden Biografie lernen, dass es nie uneingeschränkt eindeutige Erfahrungen gibt, und dass subjektive Wahrheiten sich nicht einfach in objektive Wahrheitssetzungen verwandeln lassen. Objektive Wahrheiten werden andererseits aus subjektiven Perspektiven immer relativierbar und es werden Auslassungen sichtbar, die erst zur Objektivität führen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass jede Deutung willkürlich oder beliebig wird, jedoch ist – was vielen Lehrenden schwer fällt, wenn sie sich vor allem auf Bildung und objektivierbare Inhalte konzentrieren – zu beachten, dass es in sozialen und lebensweltlichen Perspektiven immer Spielräume von Wahrnehmung, Deutung und Interpretation von Lebensverläufen gibt, die sich eben nicht in einfache Schemata nach „richtig“ oder „falsch“ oder „wahr“ oder „unwahr“ auflösen lassen. Alle Wirklichkeiten sind konstruierte Versionen von Wirklichkeiten, aber die Übereinstimmung, die Menschen hierüber finden, kann durchaus zu Übereinstimmungen in Urteilen wie auch zu strittigen Interpretationen führen. Aus diesem Grund muss in Gesprächen immer nach dem Gegenteil (insbesondere dem positiven) geforscht werden, weil zum Beispiel nicht alle Erfahrungen nur negativ oder positiv sind, sondern immer auch andere Erfahrungen gemacht worden sind. Diese intensive Art des biografischen Arbeitens entsteht erst durch Gespräche mit anderen und durch deren Feedback auf die individuellen Erzählungen. Aus diesem Grund ist die Gruppenarbeit in der Biografiearbeit förderlich und sehr viel effektiver als Einzelarbeit. Innerhalb der Gruppenarbeit hat sich herausgestellt, dass das biografische Arbeiten am intensivsten in Kleingruppen durchgeführt werden kann, die über längere Zeit zusammenarbeiten. Diese Handhabung der Biografiearbeit ist für einen günstigen Austausch zwischen den Lernenden sinnvoll und hilfreich, weil es bei der Gruppenarbeit nur einen Lehrenden gibt, der das ganze Geschehen überblicken muss. Die kleineren Gruppen und die längere Zeit des Zusammenarbeitens einer Gruppe fördern die Intensität und die Tiefe der Erfahrungen, die zugelassen werden. Zudem kann konsequenter und tiefer greifend biografisch gearbeitet werden, da sich durch den Gruppenzusammenhalt Sicherheit und Vertrauen entwickeln. Diese beiden Faktoren müssen gegeben sein, um sich in der Gruppe fallen lassen zu können, sich zu öffnen und sich auf die individuellen Erinnerungen einlassen zu können (vgl. Gudjons/Pieper/ Wagener 1986, 57, 61 ff.; Vogt in Schulz 1996, 179).
Effektiv ist die Gruppenarbeit auch für den Austausch über Unverstandenes aus dem Leben oder um sich mit anderen zu vergleichen. Für einen solchen Austausch oder Vergleich wäre es sehr günstig, wenn eine Heterogenität der Gruppe bestünde, die verschiedene Generationen umfasst. Dies ist im schulischen Lernen allerdings nicht gegeben. Wenn sich die Gruppe gut kennt, aufeinander eingestellt ist und die bisherige Zusammenarbeit gut funktioniert hat, könnten zum Beispiel auch Erfahrungen aus dem Beruf, der Ausbildung, der Religion, der Ideologie usw. besprochen werden. Weiterhin könnte in Gruppen, die über einen längeren Zeitraum biografisch arbeiten, und innerhalb derer sich ein uneingeschränktes Vertrauen entwickelt hat, ein Themenbereich aus der Biografie genauer in den Mittelpunkt der Bearbeitung gestellt werden. Dieser Schritt kann aber nur durchgeführt werden, wenn kein gegenseitiges Abwehrverhalten seitens der Lernenden besteht, denn dieses würde das biografische Arbeiten negativ beeinflussen oder in dieser Form gar nicht zulassen (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 41, 44 f.). Im schulischen Lernen ist dieses idealtypische Gruppenverhalten weniger zu erwarten. Hier können daher nur einführende und langsam und vorsichtig initiierte Biografiearbeiten realisiert werden.
4.2 Rollenverhältnis von Lernenden und Lehrenden
Die Biografiearbeit ist kein Prozess, in dem der Lehrende Monologe hält. Biografiearbeit ist eine Methode, in der sich die Lernenden und der Lehrende in einem Dialog begegnen, in dem beide Seiten die Position des Erzählenden und des Zuhörenden einnehmen können und somit den Prozess des biografischen Arbeitens gemeinsam bestimmen. In dieser Begegnung zwischen Erzählenden und Hörenden muss immer wieder aufs Neue über das Verhältnis zwischen Nähe und Distanz verhandelt werden, um in jeder veränderten Situation den richtigen Abstand zueinander zu gewinnen. Dabei darf der Umgang zwischen den beiden Parteien nicht grob und schematisch verlaufen, sondern bedarf eines behutsamen und einfühlsamen gegenseitigen Verständnisses. Dieser sorgsame Umgang miteinander muss beim biografischen Arbeiten immer gewährleistet werden, egal ob die Biografiearbeit spontan oder in geplanten Seminaren vollzogen wird.
Bei den Erzählungen in der Biografiearbeit wird Wert auf eine dialogische Kommunikation gelegt. In dieser Kommunikation werden die Rollen des Erzählenden und Zuhörenden immer wieder gewechselt, so dass ein Dialog entsteht, in dem beide oder alle beteiligten Individuen über ihre Biografie berichten, damit daraus ein gegenseitiges Lernen stattfinden kann. Dies bedeutet nicht, dass wir symmetrische Kommunikation als eine Gleichheit etwa bei Lehrenden und Lernenden erwarten können, denn durch die Deutungsmacht und Stellung des Lehrenden werden immer auch komplementäre Aspekte die Kommunikation beeinflussen. Aber Lehrende sollten sich bemühen, ihre Machtstellung zu relativieren und für einen offenen Dialog bereit sein, da sie sonst schnell in Besserwisserei verfallen und die Früchte der Biografiearbeit zerstören könnten. Die Biografiearbeit verändert die Erzählenden und die Hörenden, da das Individuum nicht mehr nur das Oberflächliche an der anderen Person in der Gegenwart wahrnimmt, sondern sie auf Grund der erzählten, vergangenen Erfahrungen als ein Ganzes betrachten lernt (vgl. Ruhe 2003, 12 ff.).
4.2.1 Lernende
Biografiearbeit kann nur gelingen, wenn von Anfang an dialogisch gearbeitet wird. Das bedeutet, dass eine freiwillige oder gewollte Teilnahme der Lernenden an einem biografischen Seminar die Voraussetzung für eine gelungene Biografiearbeit ist. Sollte Biografiearbeit im Lehrplan vorgeschrieben sein, so muss der Sinn und die Relevanz der Arbeit zuvor ausführlich vermittelt werden. Es sollte eine Bereitschaft aller Lerner erreicht werden, gerne an dieser Arbeit teilzunehmen. Damit die einzelnen Lernenden keine Furcht haben, sich den anderen Lernenden gegenüber zu öffnen und ihre persönlichen Erfahrungen zu offenbaren, sollte ihnen die Möglichkeit gegeben werden, sich schon vor Beginn des Seminars intensiver kennen zu lernen (vgl. Vogt in Schulz 1996, 179). Ein guter Einstieg in die Biografiearbeit ist immer die Arbeit mit Fremdbiografien, die vor der eigenen Biografiearbeit durchgeführt wird. Innerhalb des biografischen Arbeitens bekommt jeder Lernende Zeit und Raum, über sich und sein Leben zu erzählen. Wichtig ist, dass keiner gezwungen wird, seine Geschichte und Erfahrungen vollständig preis zu geben. Den Lernenden ist direkt zu Beginn des Seminars zu vermitteln, dass es nichts Falsches oder Verbotenes zu erzählen gibt, und das alles, was sie berichten, wirklich ernst genommen wird (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 60). Während einer Erzählung redet der Erinnernde von sich, und wählt dabei sein eigenes Tempo, seinen eigenen Rhythmus und seine eigenen Unterbrechungen und Zielrichtungen des Erinnerns (vgl. Ruhe 2003, 12, 18). Der Erzählende wird also während seines Erinnerungsprozesses nicht unter Druck gesetzt, sondern ist völlig frei in seinen Äußerungen und kann selbst wählen, ob und was er von sich und seinem Leben berichten möchte.
4.2.2 Lehrender
Es wäre günstig, wenn der Lehrende in der Biografiearbeit über weit gefasste Qualifikationen verfügen würde, damit er biografische Lernprozesse angemessen vorantreiben kann und die Lernenden mit der Methode des biografischen Arbeitens nicht überfordert. Um eine Überforderung der Lernenden zu vermeiden, ist es sinnvoll, wenn diese vom Lehrenden über alle Vorgehensweisen informiert werden, und dieser eine größtmögliche Transparenz bezüglich der Seminarformen, Inhalte und Ziele der Durchführung zeigt (vgl. Vogt in Schulz 1996, 180 f.). Außerdem sollte der Lehrende über Selbstreflexionen bezüglich seiner Lerngeschichte mit ihren Blockaden und Erfolgen verfügen, den allgemeinen Umgang mit handlungsorientierten und offenen Lernprozessen kennen, die Anbindung des Lernstoffes an die Lerngeschichte der Lernenden vollziehen können, die Reflexion des Lernprozesses durch die Lernenden begleiten und wissen, wie die Vermittlung der biografischen Methode am besten an die Lernenden herangetragen wird (vgl. url:
http://www.stefan.poehl.name/text/lernbiographien-erwachsenenbildner.pdf)
Neben diesen eher technischen Vorgehensweisen, über die der Lehrende verfügen muss, werden an ihn Anforderungen gerichtet, die sich auf seine Einstellungen und Haltungen gegenüber den Lernenden beziehen. Beziehungsorientierung, Wertschätzung, Einfühlsamkeit und Echtheit sind die bedeutendsten Kompetenzen, die der Lehrende aufweisen muss, damit er auf die Situationen reagieren kann, in die Biografiearbeit führen kann. Der Lehrende muss jeden Lernenden so wertschätzen und in seiner Lebensgeschichte akzeptieren, wie er oder sie sich präsentiert, fühlt, in Widersprüchen oder Ambivalenzen steckt, voller Hoffnungen oder Ängste ist. Hier ist ein grundsätzlicher Respekt vor der Andersheit des Anderen erforderlich, der insbesondere jede Besserwisserei, Moralisierung oder Rationalisierung auf enge Bildungsvorstellungen vermeidet. Vermieden werden muss auch, was mitunter in Schriften zur Biografiearbeit anklingt, dass der Lehrende meint, die Persönlichkeit des Lerners folgerichtig einschätzen zu können, Urteile über deren Zukunftschancen eindeutig voraussagen zu können, Werturteile vorschneller Art zu fällen.
Während der Lehrende jeden Lernenden hier einzeln im Blick haben muss, gilt es zudem, die Gesamtsituation der Gruppe nicht aus den Augen zu verlieren und auch deren gefühlsmäßige und gedankliche Lage zu beobachten und angemessen darauf zu reagieren, um den weiteren Ablauf danach ausrichten zu können. Auf Grund dieser Tatsache wäre es für den Lehrenden und die Lernenden hilfreich, wenn der Lehrende über Erfahrungen als Leiter und Teilnehmer gruppendynamischer Prozesse verfügt. Zumindest muss der/die Lehrende sehr sensibel in Bezug auf Beziehungsarbeit sein und eine wertschätzende und fördernde Haltung gegenüber allen Lernen einnehmen können. Nur wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, und der Lehrende seine Erfahrungen und Erinnerungen aus der eigenen Lebensgeschichte kritisch und selbstreflexiv mit in das biografische Arbeiten einbringt, kann Biografiearbeit hinreichend gelingen und intensiv durchgeführt werden.
Bleibt der Lehrende aber in einer übergeordneten Position, die vor allem inhaltlich ausgerichtet ist und Biografiearbeit nicht als Arbeit an einem perspektivisch offenen Material sieht, entsteht ein zu starker Kontrast zwischen Lehrendem und Lernenden. Dies ist für den Lehrenden nicht immer einfach. Dadurch, dass der Lehrende während des biografischen Arbeitens auf zwei Seiten agieren muss, erhält dieser eine schwierige Doppelfunktion. Er/sie muss Lehrende/r sein, indem sie/er das Seminar vorbereitet, strukturiert, moderiert usw., und andererseits muss er/sie Lernende/r sein und sich mit seinen/ihren Erfahrungen und Erlebnissen in das Seminar einbringen. Eine gute Möglichkeit, diese Situation der Doppelfunktion besser zu nutzen, bestünde darin, dass es in einem Seminar mehrere Lehrende gibt, die sich die Aufgaben untereinander teilen (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 58 f.; Vogt in Schulz 1996, 180).
Während ein Lernender von seinen Erfahrungen erzählt, befinden sich die anderen Lernenden und der/die Lehrende in der Zuhörerposition. In dieser Position werden dem Erzählenden von dem Lehrenden keine Ratschläge erteilt, sondern der Lehrende begegnet dem Erzählenden mit sanften Fragen, die Interesse an der erzählten Lebensgeschichte signalisieren. Der Lehrende muss mit seinem Verhalten Neugierde an der erzählten Lebensgeschichte ausdrücken. Dadurch versucht der Lehrende in weitere und tiefere Erfahrungen vorzudringen. Damit der Erzählende dieses zulässt und seine Erfahrungen preis gibt, muss er sich sicher und geborgen fühlen. Er muss wissen, dass er mit seinen Erzählungen auf offene Ohren, eine respektierende Bejahung und einfühlendes Fragen auf Seiten des Lehrenden stößt. Der Rhythmus der Erzählungen richtet sich nach dem Erinnernden, und der Zuhörende muss diesem Rhythmus folgen. In der Position des Zuhörenden gilt es, die Ich-Haltung niederzulegen, nicht den anderen zu bewerten, aber auch nicht jeder Äußerung des Erzählten zuzustimmen, sondern gegebenenfalls vorsichtig eigene Ansichten einzubringen. Allerdings müssen sich dafür beide Parteien unvoreingenommen begegnen, damit eine solche Art der Kommunikation, in der sich Erzählende und Zuhörende offen treffen können, zustande kommen kann. Ist dieses nicht möglich, kann Biografiearbeit eine negative Form annehmen.
Die Erzählungen eines Lernenden sollten nur in einem gewissen Maße interpretiert werden, da sie eher als Spiegel der Vergangenheit fungieren (vgl. Ruhe 2003, 12 f., 18 f.). Bedient sich der Lehrende dennoch eigener Interpretationen, ist es notwendig, dass er diese nicht als eine gefestigte Theorie wiedergibt, sondern hypothetisch äußert. So kann die Kompetenz des Lerners gewahrt bleiben. Biografiearbeit sollte in jedem Fall ein ausgeglichener dialogischer Prozess sein, in dem Lehrende und Lernende gleichberechtigt und gemeinsam auf derselben Ebene agieren.
4.3 Arbeitstechniken, Methoden
Die Übungen, die in einem Biografiearbeits-Seminar angewendet werden, sollten genau auf die Lernenden abgestimmt werden. Dabei gilt die Regel: „Weniger ist mehr“. Das bedeutet, dass wenige, einfache Übungen geeigneter zum Arbeiten sind, als die Lernenden mit vielen und komplizierten Übungen zu überfordern und dadurch kein zufrieden stellendes Ergebnis zu erzielen. Es wäre günstig, wenn die Übungen immer unterschiedliche einzelne Themenbereiche abdecken, wie z.B. Kindheit, Familie, Ernährung, Körper, Schulzeit (bzw. zeitliche Teilaspekte aus all diesen Themenbereichen), die sich auf Lebenswege und deren Entwicklungen beziehen. Durch diese Art von Bearbeitung der eigenen Biografie besteht die Möglichkeit, einzelne Phasen, Abschnitte, Übergänge, Wendepunkte usw. einer Lebensgeschichte genauer zu betrachten und besser bewältigen zu können (vgl. Vogt in Schulz 1996, 180 ff.). Bei der Bearbeitung einer Übung ist von dem Lehrenden zu beachten, dass die Übung Mittel zum Zweck ist. Das heißt, die Übung ist der Auslöser für einen Reflexionsprozess, sie provoziert das Auftauchen der Erinnerungen, an denen gearbeitet werden soll. Deshalb erhält man bei den Übungen auch kein einheitliches Ergebnis, da alle Lernenden verschiedene Erfahrungen gemacht haben, alle auf ihre Weise unterschiedlich mit diesen umgehen und sich an sie erinnern. Den Lernenden verhelfen die Übungen, sich konkreter und strukturierter an Erfahrungen aus ihrem Leben zu erinnern, da die Übungen bestimmte Bereiche im Leben ansprechen und bearbeiten. Gerade weil sie sich aber auf bestimmte Lebens- oder Themenbereiche beziehen, muss eine Vielzahl unterschiedlicher Übungen angeboten werden. Zum einen, damit verschiedene Erfahrungen aus allen möglichen Lebensbereichen behandelt werden können, und zum anderen, weil sich nicht alle Lernenden gleichermaßen auf alle Übungen einlassen und mit allen Übungen gleich gut arbeiten können. Hilfreich ist es auch, wenn in einem Seminar Übungen durchgeführt werden, die einen Bezug zum alltäglichen Leben haben, denn diese verdeutlichen dem Lernenden das „konkrete Leben“.
Bedeutsame methodische biografische Arbeitsweisen sind das Erzählen, das Schreiben oder auch das Feedback geben und erhalten. Die Unterstützung und Intensität dieser Arbeitsweisen erfolgt durch das Einbeziehen persönlicher biografischer Daten, wie zum Beispiel Fotos, Poesiealben, Sprüchesammlungen, Portfolios oder auch das Aufsuchen für die Person relevanter Orte und Umfelder. Dieser Assoziationsprozess in Bezug auf diese Orte gehört ebenso zu der Arbeit mit den alltäglichen Erfahrungen, wie die Interaktionserfahrungen zwischen Menschen (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 38 ff.).
4.4 Übungen
Die Themenbereiche wie Familie, Beruf, Partnerschaft usw., die in den Übungen der Biografiearbeit behandelt werden, sind keine Rezepte, sondern veränderbare Vorschläge. Sie sollen nur Anregungen bieten, wie oder was gemacht werden kann. Außerdem ist es möglich und gegebenenfalls auch sinnvoller, wenn eine Abwandlung oder Anpassung der Übung an den jeweiligen Kontext, der in dem bestimmten Praxisfeld vorherrscht, durchgeführt wird (vgl. Ruhe 2003, 16, 20).
Zunächst werden hier drei kleinere Übungen vorgestellt, die zum Ziel haben, die Lernenden zur Selbstreflexion anzuregen, und die sich nicht auf bestimmte Themenbereiche oder Praxisfelder beziehen. Im weiteren Verlauf werden Übungen dargestellt, die auf verschiedene Themenbereiche bezogen sind oder in unterschiedlichen Erfahrungs- und Arbeitsfeldern eingesetzt werden können.
(1) Die Methode des Feedbacks ist eine sehr einfache, aber effektive Übung. Während der Anwendung des Feedbacks entsteht zwischen den Lernenden eine Kommunikation, in der Eindrücke von verschiedenen Lernenden gegeben und ausgetauscht werden. Durch die Rückmeldung der verschiedenen Lernenden auf die Geschichte eines Individuums, lernt dieses, sich neu zu erfahren und kann dadurch neue Sichtweisen annehmen oder ablehnen.
(2) Im Zusammenhang mit dem Feedback steht das Sharing. Beim Sharing sollen die zuhörenden Lernenden nach der Berichterstattung eines Individuums von sich erzählen, welche Aspekte sie aus der Biografie des erzählenden Individuums bei sich im Leben wieder finden und welche Gegebenheiten zwischen der erzählten und der eigenen Lebensgeschichte geteilt werden können (vgl. Ruhe 2003, 138). Das Sharing kann sehr gut mit Methoden wie Reframing oder Skulpturen verbunden werden.
(3) Eine weitere Methode ist die der metaphorischen Sprechweise in den Erzählungen. Metaphern bringen in den Erzählungen eines Menschen zum Ausdruck, wie der Erzählende sich, seine Geschichte und seine Umwelt interpretiert und konstruiert. Seine Auffassung von den Menschen und den Dingen in der Welt äußern sich in metaphorischen Erzählweisen. Der Gebrauch von Metaphern spielt eine wichtige Rolle beim biografischen Arbeiten. Dem Individuum wird durch die Benutzung von Metaphern die Möglichkeit eingeräumt, entweder seine Lebensgeschichte in einer metaphorischen Sprechweise zu beschreiben, bei der die Faktoren des Unwohlseins und Unzufriedenseins klar ausgedrückt werden, oder das Individuum berichtet seine Biografie anhand von utopischen Metaphern in einer übertriebenen fröhlichen Gegenvariante. Dadurch kann sich das Individuum den Blick für eine alternative Lebensform frei machen. Es können auch nur einzelne Lebensbereiche oder Erfahrungen, wie zum Beispiel Ausbildung, Krankheiten, Heirat usw. in Metaphern umgesetzt und berichtet werden (vgl. Straub/Sichler in Alheit und Hoerning 1989, 230 ff.). Durch die metaphorische Sprechweise fällt es dem Erzählenden möglicherweise leichter, seine Lebensgeschichte darzulegen, um alternative Sichtweisen zu erhalten. Auch dies kann durch eine Kombination mit Methoden wie Reframing oder Skulpturen verbunden werden.
Die Übungen, die im weiteren Verlauf dieser Arbeit vorgestellt werden, sind nur ein kleiner Ausschnitt aus vielen Möglichkeiten. Insbesondere die im Methodenpool dargestellten systemischen Methoden laden auch zu einer experimentellen Haltung ein, die Lehrende beim Einsatz der Biografiearbeit grundsätzlich wählen sollten. Gerne nehmen wir hierüber Erfahrungsberichte auch in den Methodenpool auf. Dagegen wäre es wenig sinnvoll, hier eine Sammlung von Methoden aufzustellen, da es eine so große Anzahl von Übungen gibt, dass wir schnell den Überblick verlieren würden, wenn sie aufgezählt werden. Hier ist die Variation und Vielfalt erwünscht, um gar nicht erst ins Rezepthafte oder Stereotype zu verfallen. Es werden Übungen unterschiedlichster Art zum Beispiel im Internet, in der Literatur, in Seminaren usw. vorgestellt, die man für seinen eigenen Gebrauch auswählen und dann wiederum variieren kann. Allerdings sind diese, wie bereits angemerkt, keine Rezepte, nach denen genau vorgegangen werden muss, sondern sie sollen bloß Anregungen bieten. Das heißt, dass ihr vorgegebener Ablauf immer abwandelbar ist. Es besteht auch ohne weiteres die Möglichkeit, eigene Übungen zu entwickeln. Ihr Erstellen wird umso origineller und effektiver, wenn sich eigene Erfahrungen und Vorstellungen mit Ideen anderer mischen, um experimentell ausprobiert zu werden. Eine Regel sollte jedoch immer beachtet werden:
Bei der Ausarbeitung und Anwendung von allen Übungen ist es sinnvoll, dass sie im Einverständnis mit den Lernenden überlegt, entwickelt und durchgeführt werden.
Im weiteren Verlauf werden zu verschiedenen Themenbereichen eine oder auch mehrere Übungen aus der Literatur „Auf meinen Spuren. Das Entdecken der eigenen Lebensgeschichte“ von „H. Gudjons, M. Pieper, B. Wagener“ vorgestellt. Die Übungen geben jeweils das Ziel, die Art der Durchführung und Auswertung, das verwendete Material und gegebenenfalls besondere Hinweise an.
1. Themenbereich: Einführung, Kennen lernen, Aufwärmen,
Entspannung, Abschied
Lebenserfahrung auf der Tüte oder in einem Wappen
In dieser Übung geht es darum, dass sich die einzelnen Gruppenmitglieder untereinander kennen lernen und anhand einer kreativen Arbeit mit den eigenen biografischen Erfahrungen entscheiden sollen, welche Erfahrungen sie der Gruppe mitteilen oder welche sie lieber für sich behalten wollen. Um dieses Vorhaben zu realisieren, erhält jeder Lernende die dafür notwendigen Materialien, wie eine große unbedruckte Papiertüte, unterschiedliche Zeitungen und Zeitschriften, Filzstifte, Scheren und Kleber. Die Lernenden sollen dann ihre Papiertüte vor sich aufstellen und der Lehrende erteilt ihnen die Aufgabe, dass die Lernenden auf der Außenseite der Papiertüte ihre Erfahrungen abbilden sollen, die alle Gruppenmitglieder wissen dürfen. Dagegen sollen auf der Innenseite der Papiertüte die Erfahrungen dargestellt werden, die den anderen nicht mitgeteilt werden sollen.
Aufgabe der Lernenden ist es zunächst, mit der Gestaltung der Außenseite zu beginnen und dann zur Innenseite überzugehen. Die Gestaltung erfolgt mit den genannten Materialien. Nachdem dieser kreative Schritt abgeschlossen ist, verschließt jeder der Lernenden unter Schweigen seine Papiertüte, und zwar so, wie es ihm beliebt.
Daraufhin werden alle Papiertüten mit Namensschildern so im Raum aufgestellt, dass jeder Lernende zu allen Papiertüten Zugang hat und die Möglichkeit erhält, alle Tüten zu begutachten. Dazu wird den Lernenden z.B. 40 Minuten Zeit gegeben. Nach dieser Begutachtung der einzelnen Papiertüten sollen sich die Lernenden zu diesen äußern. Dieses geschieht auf der Grundlage eines Fragenkataloges, der von dem Lehrenden vorbereitet wurde. Der Fragenkatalog beinhaltet Fragen, wie zum Beispiel:
- Was blieb mir im Gedächtnis?
- In welche Tüte hätte ich gerne hineingeschaut?
- Welche Tüte ist meiner ähnlich?
- Was möchte ich nachfragen oder genauer wissen?
Danach erhält jeder Lernende die Möglichkeit, seine individuell gestaltete Papiertüte zu erklären. Hierbei sind die Lernenden nicht gezwungen, ihre persönlichen Erfahrungen, die auf der Innenseite der Papiertüte abgebildet sind, preis zu geben, da diese oft mit Ängsten oder Unsicherheiten verbunden sind. Wenn sie wollen, dann können sie allerdings auch über ihre Innenseiten sprechen. Um den Lernenden die Erläuterung ihrer Papiertüte zu erleichtern, können diese sich an vorbereiteten Fragen orientieren
- Was ist mir besonders wichtig/unwichtig?
- Was kann wachsen und größer werden, was sollte kleiner und nicht so bedeutsam sein?
- Was habe ich schon erreicht?
- Was sind Wünsche für die Zukunft?
- Womit bin ich in meinem Leben „ausgesöhnt“?
- Warum mag ich über bestimmte Dinge nicht reden?
- An welchen Problemen will ich arbeiten?
(vgl. dazu teilweise Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 78-80).
Das Modell kann beliebig abgewandelt werden. Statt Tüte bietet sich an: Wappen meines Lebens als Flipchart; mein Leben als Karte oder als Landschaft an der Stellwand usw.
Entspannung und Körperwahrnehmung (lange Form)
Das Ziel dieser Übung besteht darin, dass die Gruppenmitglieder lernen, ihren Körper wahrzunehmen, sich auf diesen zu konzentrieren, ruhig zu werden und sich entspannen zu können. Um diese Faktoren erreichen zu können, sollte der Lehrende einen Text zur Hilfe nehmen, der den Lernenden das entsprechende Körpergefühl vermittelt. Der folgende Text könnte zum Beispiel dafür genommen werden (vgl. analog dazu auch die Fantasiereise):
„Leg dich bequem auf den Boden in eine Haltung, die dir angenehm und vertraut ist. Schließe die Augen.
Atme ein und tief wieder aus…(mehrmals wiederholen!)
Spüre den Strom deines Atems durch deinen Körper gehen…Lass Gedanken und Bilder aufsteigen, halte sie nicht fest…Nimm wahr, wie du daliegst, wie dein Körper Kontakt zum Boden hat, von ihm getragen wird…
Spüre in jeden Teil deines Körpers hinein: Spüre dein Gesicht…die Muskeln in deinem Gesicht…die Stirn…die Augen…die Wangen…den Mund…den Unterkiefer…
Wenn du Anspannungen spürst, gehe ihnen nach, verstärke sie und lasse sie dann los…
Spüre deinen Nacken, fühle, wie du deine Schultern hältst, deine Arme…deine Hände…
Spürst du Impulse, gehe ihnen in Gedanken kurz nach. Spüre deine Brust…Fühle deinen Rücken, geh langsam deine Wirbelsäule entlang…Spüre deinen Bauch, atme tief in ihn hinein…Fühle dein Becken…Spüre dein Gesäß…(Spüre dein Geschlecht…)
Nimm deine Oberschenkel wahr…deine Beine…deine Füße…deine Zehen.“
Eine richtige Anwendung dieser Übung kann nur erfolgen, wenn der Raum ausreichend Platz bietet, damit die Lernenden sich der Länge nach auf Matten oder Decken, die auf dem Boden liegen, ausstrecken können.
Eine solche Übung bedarf keiner Auswertung (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 87-88).
Abschied - ein Gedicht
Diese Übung wird am Ende einer gemeinsamen Arbeit durchgeführt, um die persönlichen Erfahrungen dieses Arbeitens schriftlich festzuhalten und den anderen mitzuteilen.
Für die Durchführung dieser Übung benötigen die Lernenden nur Papier und Stift. Die Lernenden haben die Aufgabe, zum Abschluss entweder ein Gedicht ohne Reime oder einen kurzen Text zu verfassen, in dem ausgedrückt werden soll, was für jeden Einzelnen bei der gemeinsamen Arbeit wichtig war. In der Gruppe können zunächst die gemeinsamen Erfahrungen stichpunktartig gesammelt und aufgeschrieben werden, um dann die Erinnerung allein weiter fortzuführen. Bevor sich die Lernenden aber allein an die Arbeit begeben, sollte der Lehrende unbedingt klarstellen, dass jedes Individuum schreiben kann, was ihm beliebt. Die meisten tun dieses nämlich nicht, da sie Angst vor Bewertungen haben. Durch diese Klarstellung werden bei den Lernenden die Hemmschwellen abgebaut.
Nachdem alle Lernenden ihr Gedicht oder ihren Text fertig gestellt haben, werden diese in einer nicht vorgegebenen Reihenfolge vorgestellt. Das Vorlesen einer Arbeit erfolgt unter Schweigen der Gruppe, die das Gedicht oder den Text nur auf sich wirken lassen und nicht darüber sprechen soll. Zwischen den Gedichten muss immer eine kurze Pause eingeplant werden, damit die einzelnen Gedichte auch tatsächlich eine Wirkung erzielen. Für die Vorstellung der einzelnen Arbeiten sind je nach Gruppengröße hinreichende Zeiten einzuplanen. Allerdings lässt nach 30 Minuten auch die Aufmerksamkeit nach
(vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 89-90).
2. Themenbereich: Familie
Beziehungsfeld in Phasen der Kindheit
Die Lernenden sollen in dieser Übung darstellen, welche Personen in der Kindheit ihnen zu verschiedenen Zeitpunkten wichtig waren, ihnen nahe standen oder welche von ihnen weiter weg standen.
Das DIN-A4-Blatt, das die Lernenden ausgeteilt bekommen, wird im Querformat mit drei nebeneinander liegenden großen Kreisen bemalt. In diese Kreise soll jeder das Wort „Ich“ notieren. Diese Kreise symbolisieren das Beziehungsfeld zwischen bestimmten Lebensaltern, die frei ausgewählt werden dürfen. Nun haben die Lernenden die Aufgabe, ganz spontan, ohne nachzudenken, die Namen von bestimmten Personen zu den Kreisen zu schreiben, die das entsprechende Lebensalter repräsentieren. Die Nähe oder Entfernung, in die der Name der Person zu dem „Ich“ eingetragen wurde, drückt die Enge des Kontaktes aus, der zwischen der bestimmten Person und dem „Ich“ bestand. Neben dem Namen der bestimmten Person schreiben die Lernenden ein Plus- oder ein Minuszeichen, durch welches das Gefühl symbolisiert wird, das sie in ihren augenblicklichen Erinnerungen mit der Person und deren Position empfinden. Für diesen Vorgang haben die Lernenden z.B. zehn Minuten Zeit. Währenddessen sollen sie sich auch klar machen:
- Wer war „fördernd“ nah, wer war „kontrollierend“ nah?
- Wer war zu unangenehm weit weg, wessen Distanz war angenehm?
- Wer war für was bedeutsam?
Die Durchführung der Übung kann auch um eine Variante erweitert werden. Innerhalb dieses Ablaufs wird sich in der Gruppe auf eine Person geeinigt (z.B. Mutter), bei der das bereits genannte Verfahren angewendet wird. Bei dieser Gruppenaufgabe geht es darum, dass alle Lernenden sich mit einer bestimmten Person befassen. Dabei gibt der Lehrende die Person an, mit der sich die Lernenden auseinander setzen sollen. Die Nähe und Entfernung bei dieser Form der Übung kann auch auf bestimmte Empfindungen wie Trauer, Freude, Angst usw. übertragen werden.
Die Auswertung dieser Übung erfolgt in Kleingruppengesprächen, die sich mit den Fragen auseinandersetzen, wie zum Beispiel
- Wie hat sich mein Beziehungsfeld verändert? Wie kam es dazu? Wer fiel weg, wer kam dazu, wie war das?
- Was hat mir gefehlt, was hätte ich mir gewünscht?
- Wie geht es mir in meinem heutigen Beziehungsfeld mit Nähe und Distanz? Wie beweglich bin ich?
- Variante: Wie geht es mir, wenn zum Beispiel meine Mutter wütend ist? (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 94-95).
Alternativ kann diese Übung auch mit fremden Biografien durchgeführt werden. Die Lerner analysieren dann aus ihrer Sicht die jeweils fremde Biografie, indem sie sich in die Ich-Position hineinversetzen und stellvertretende für diese eine Interpretation liefern und anschließend diskutieren.
3. Themenbereich: Kindheit
Kindvorstellungen oder: „Was ist ein Dingsbums?“
Die Lernenden sollen sich für einen Moment in ihre Kindheit zurückversetzen und noch mal der eigenen Kindheit nachgehen und erfahren, wie sich dies anfühlt.
Um diese Erfahrungen zu spüren, finden sich die Lernenden in Vierergruppen zusammen und schließen sich innerhalb dieser kleinen Gruppen zu Paaren zusammen. Danach muss ein Paar einer Vierergruppe beginnen und auf den Text, den der Lehrende wiedergibt, reagieren. Der Text lautet wie folgt:
„Schließ die Augen und stell dir vor, du bist drei bis vier Jahre alt. Du beherrscht deinen Körper und die Sprache. Du bist neugierig auf die Welt. Dein Denken ist fantasievoll, alles ist möglich.“
Darauf bekommt das Paar einen Zettel mit Fragen, von denen es drei auswählt. Sie sollen sich nun in ihrer Position als Drei- bis Vierjährige mit den gewählten Fragen auseinandersetzen, Erklärungen suchen und sich Geschichten zu diesen Themen ausdenken. Für die Bearbeitung jeder Frage erhalten sie jeweils fünf Minuten Zeit. Die Aufgabe des anderen Paars besteht darin, den beiden zuzuhören, sie zu beobachten und ihre Schilderungen und ihr Verhalten nachzuempfinden. Im weiteren Verlauf werden die Positionen getauscht und drei andere Fragen ausgewählt.
Zu den Fragen, über die sich die Paare austauschen sollen, können zum Beispiel gehören (aber auf drei Fragen begrenzen!):
- Was ist am Schönsten in der Welt?
- Was ist gerecht?
- Was ist selten?
- Was ist Donner?
- Was ist ein schlimmes Wort?
- Woher kommen die Babys?
- Was ist ein Schwarzer?
- und Fragen, die thematisch auf ein bestimmtes Lernfeld passen
Für diese Bearbeitung müssen etwa 35 Minuten eingeplant werden.
Die Auswertung erfolgt wieder in den Vierergruppen, die sich mit Fragen beschäftigen sollen, wie zum Beispiel
- Wie ist es mir ergangen, als ich ein Kind war?
- Wie hängt das Kind, das ich eben gespielt habe, damit zusammen, wie ich als Kind wirklich war?
- Wie hätten meine Eltern reagiert, wenn ich so wie eben geantwortet hätte?
- Wie habe ich die anderen wahrgenommen?
- Was hat mir an dir gefallen?
Diese Übung führt die Lernenden sehr gut in den Themenbereich Kindheit ein und hilft ihnen, lockerer zu werden (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 150-151).
Alternativ lässt sich diese Übung auch sehr gut bei der Interpretation von Kindheit am Beispiel von fremden Biografien einsetzen, weil durch den Perspektivwechsel zugleich das Spannungsfeld Kindheit-Erwachsensein in der Fremdbiografie deutlich werden kann.
4.Themenbereich: Schule
Ich und die Mitschüler/innen
Die Schulzeit (oder ein Teil der Schulzeit) wird in dieser Übung ins Gedächtnis gerufen, und jeder Lernende soll sich erinnern, in welcher Position er sich in der Gruppe zu verschiedenen Zeitpunkten in der Schulzeit behauptet hat.
Zunächst werden die Lernenden gebeten, auf ein quer vor sie gelegtes Blatt drei bis vier Leitern zu zeichnen (je nach Entwicklungsstand auch weniger). Zwischen diesen Leitern muss genügend Platz gelassen werden. Unter die Leitern werden nun z.B. Kindergarten, Grund-, Mittel- und Oberstufe geschrieben. In die Leiter selber, also zwischen die einzelnen Sprossen, werden die Namen von Klassenkameraden und der eigene Name eingetragen. Diese sollen so hingeschrieben werden, wie der Lernende die damalige Rangfolge einschätzt. Während die Lernenden die Leitern ausfüllen, haben sie sich folgende Fragen zu stellen:
- Wer war unter uns Schülern am beliebtesten, am angesehensten? Wen wollten alle gerne zum Freund/zur Freundin haben?
- Wer wurde von den meisten nicht gemocht oder abgelehnt?
Zu dieser Aufgabe haben die Lernenden zwanzig Minuten Zeit. Danach bekommen sie noch einmal fünf Minuten Zeit, um sich ihre Anordnungen genauer zu betrachten und dabei über Fragen nachzudenken, wie:
- Wenn sich meine Position verändert hat, wie kam es dazu, woran lag das?
- War ich zufrieden mit meiner Position? Wenn nicht: An wessen Stelle wäre ich gerne gewesen, und was hätte ich dann sein müssen?
- Wie ist es heute in Gruppen - welche Position nehme ich oft ein?
Daraufhin werden diese Fragen in kleinen Gruppen erläutert (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 181). Wichtig ist es bei dieser Übung, sehr sensibel mit dem Gefühl von Ausgrenzung umzugehen. Hier sollte der Lehrende lösungsorientiert am Thema der Integration (= Was kann ich dagegen tun, wenn ich mich ausgegrenzt fühle?) nach der Gruppenphase arbeiten.
Unterrichtsinhalte biografisch aufarbeiten
In der „Konstruktivistischen Didaktik“ nach Reich lassen sich auch viele Unterrichtsinhalte biografisch aufarbeiten. Dies gilt ohnehin für die literaturwissenschaftlichen Anteile des Deutschunterrichts, in denen immer Biografisches thematisiert werden kann. Aber auch generell gilt, dass Biografien ja nicht nur die eigenen der Lerner sein müssen, sondern immer auch fremde Biografien sein können, die mit eigenen biografischen Erfahrungen verglichen werden. Hierzu ein Auszug aus der konstruktivistischen Didaktik über die französische Revolution:
„Die Lerngruppe weiß, dass im Unterricht die »Französische Revolution« im Rahmen des Lehrplans zu behandeln ist. In einer Einstiegsphase verständigt sich die Gruppe mit der Lehrerin, was sie am Thema interessiert. Da das Interesse sehr schleppend ist, stellt die Lehrerin zunächst eine Frage: „Was müsste geschehen, damit ihr eine Revolution macht?“ Die Frage wird nicht mündlich beantwortet, sondern schriftlich rekonstruiert, indem alle Lerner mindestens drei Situationen überlegen und auf Karten schreiben, Diese werden gesammelt, zu Themenfeldern geordnet und visualisiert dargestellt. In Gruppenarbeit werden diese Themenfelder übersichtlich auf Plakate gebracht und aufgehängt. Im nächsten Schritt werden die Lerner in die Vergangenheit versetzt, indem jeder eine neue Identität erhält. Die Lehrende hat vor dem Unterrichtsprojekt rekonstruktive Rollenbilder aus historischen Quellen und Sekundäranalysen zusammengestellt, die am Beispiel von ausgewählten Einzelpersonen Aspekte des Lebens vor der französischen Revolution im Detail darstellen. Wesentliche gesellschaftliche Gruppen der damaligen Zeit sind in diesen Personen repräsentiert. Die jeweilige Rollenbeschreibung endet in der Fragestellung, was die jeweilige Person in der Zukunft tun könnte, um weiter im Überfluss oder besser und ohne Not zu leben. (Hier kann entweder ein Fragenkatalog der Lehrenden stehen, bei fortgeschrittenen Gruppen könnten aber auch Rollenbilder und Fragen eigenständig von den Lernern erarbeitet werden: z.B.: „Mit wem muss ich mich zusammenschließen, um meine Interessen durchzusetzen?“ „Was kann ich tun, um meinen Lebensunterhalt zu erreichen/auszubauen/in noch mehr Luxus zu verwandeln?“) Alle Lerner sind zusätzlich aufgefordert, sich ein Requisit zu ihrer Rolle zu beschaffen und mit diesem sich in einem Raum zu treffen (dies vermittelt einen symbolischen Anhaltspunkt zur Rolle). Das Rollenbild enthält informierendes Material oder Quellen und eine Handlungsaufforderung, z.B.: „Der Adel zieht sich in die rechte Ecke zurück und überlegt mit der Gruppe der Intellektuellen, was er tun kann, um eine Revolution zu verhindern. Es wird ein Plakat mit mehreren Thesen entwickelt.“ „Die Intellektuellen trennen sich vom Adel. Sie begründen dies in einem Thesenpapier.“ „Der dritte Stand rottet sich im Klassenzimmer hinter den Stellwänden zusammen. Er schreibt nach einer Beratung seine Forderungen nach einer Verbesserung der Lebensverhältnisse an die Tafel.“ Dieses eher offene Verfahren benötigt Übung und eine Lerngruppe, die an eine eigenständige Lernorganisation gewöhnt ist. Was geschieht durch eine solche Lernorganisation? Die Lehrende wartet ab. Gibt es kreative Lösungen? Bilden sich Argumentations- und Handlungskontexte heraus? Wirken sich die Rollen aus? Je nach Sachlage gibt die Lehrende weitere Impulse.
Eine geordnetere Methode dieser konstruktiven Arbeit (auf dem Hintergrund eines rekonstruktiven Materials) wäre es, wenn die Lerner vorbereitet durch eine engere Aufgabenstellung der Lehrerin in einem Rollenspiel der gesellschaftlichen Gruppen gegeneinander antreten und über Ursachen einer notwendigen oder abzuwehrenden Revolution streiten.
Mit beiden Verfahren können konstruktiv die Ursachen der französischen Revolution vor dem Hintergrund eines quellenorientierten Materials erarbeitet werden. Entscheidend für die konstruktive Seite ist am Ende dieser Phase, dass die eigenen Konstruktionen über Revolutionen heute dann reflektierend mit der französischen Revolution in Verbindung gesetzt werden. Dies erst schafft eine Bedeutsamkeit, die für die Lerner eine Auseinandersetzung tieferer Art ermöglicht: Was verbindet mich und mein Denken mit einer Revolution, die bis heute wesentlich für bestimmte kulturelle Auffassungen ist?
In diesem Fall waren die Lerner sehr ernüchtert, was ihre revolutionären Wünsche und die Umstände der französischen Revolution betrafen. Es wurde enttarnt, angezweifelt und kritisiert, dass Revolutionen heute eher subjektivistisch orientiert erscheinen, wohingegen die französische Revolution eher eine Vorbereitung dessen war, was wir heute als subjektive Freiheiten reklamieren.
Über die Dekonstruktion der Freiheit mittels der Gleichheit und vor allem der Brüderlichkeit konnte im weiteren Verlauf des Unterrichts auch das eigene Bild der Revolutionen heute verändert werden: Können wir es überhaupt Revolution nennen, wenn wir eher subjektiv gegen bestimmte Umstände rebellieren?
Der Lehrenden gelang es, da sie auch Deutsch unterrichtete, neben dem Geschichtsunterricht „Dantons Tod“ durchzunehmen. Sie ließ hier die Lerner eigenständig Rollentypen biografisch rekonstruieren und dann in einer Skulptur gegen- und miteinander spielen. Dabei zeigte sich, wie wesentlich die Beziehungsseite für das inhaltliche Lernen ist: Die Lerner entwickelten über ihre inhaltlichen Rollen Beziehungen zu- und gegeneinander, die für sie im Spiel sehr viel deutlicher werden ließen, wo auch damals für Akteure (am Beispiel des Schauspiels) mögliche Konflikte und Lösungsalternativen lagen. Sie rekonstruierten sich Ausgangsbedingungen, indem sie ein Spiel konstruierten, das der damaligen Wirklichkeit nah sein sollte, aber das vor allem ihnen in ihrer Wirklichkeit hier und jetzt auch nah war.“ (Reich: Konstruktivistische Didaktik, 151 f.)
Das Beispiel zeigt einen biografischen Ansatz, der in den herkömmlichen Unterricht integriert wurde. Dies könnte dann auch biografisch von den Lernern für sich reflektiert werden (es ließe sich auch gut mit der Methode Portfolio zusammen realisieren).
5. Themenbereich: Ausbildung/ Beruf
Wie verbringe ich meine Zeit?
Das Ziel dieser Übung ist es, die Handhabung der individuellen Zeit deutlich herauszustellen und herauszufinden, wie es zu dieser Handhabung der individuellen aber auch gesellschaftlichen Zeitverwendung gekommen ist.
Das Material, das für die Bewältigung dieser Aufgabe benötigt wird, ist etwas umfassender als sonst. Es müssen Stifte, vervielfältigte „Stundenpläne“, eine Wandzeitung zu den verschiedenen Tätigkeiten, ein vervielfältigter Fragenkatalog, Papier für die Wandzeitung, Filzstifte und Klebeband organisiert werden.
Die Übung beginnt damit, dass den Lernenden der vorbereitete Stundenplan ausgeteilt wird, und diese sich überlegen und in den Plan aufschreiben sollen, wie viel Zeit sie mit welcher Tätigkeit in der Vergangenheit verbracht haben. Um die Erinnerungen zu erleichtern und zu unterstützen, können einige Bereiche, wie zum Beispiel
- Schlaf,
- Berufstätigkeit,
- Hausarbeit,
- Freizeit,
- Hygiene usw.
auf die Wandzeitung geschrieben werden. Es dürfen auch die eigenen Terminkalender als Gedächtnisstütze dienen. Für diesen Aufgabenschritt erhält jeder zwanzig Minuten Zeit. Danach wird der vorbereitete Fragenkatalog ausgeteilt, anhand dessen die Lernenden unter Schweigen ihren Zeitverwendungsplan noch einmal überprüfen sollen. Innerhalb von 15 Minuten sollen die Lernenden Fragen nachgehen und schriftlich festhalten, wie zum Beispiel:
- Welche Beschäftigungen nehmen den Hauptteil meiner Zeit ein? Welche den geringsten?
- Habe ich Phasen, die ich nur für mich nutze, oder ist alles verplant?
- Bin ich mit der Einteilung meiner Zeit zufrieden?
- Was soll sich ändern, und was kann ich dafür tun?
Die Auswertung erfolgt in einem Kleingruppengespräch, in dem jeder nacheinander seinen Plan der Gruppe präsentiert. Bei diesen Erläuterungen müssen auch die Fragen des Fragenkataloges berücksichtigt werden. Die zuhörenden Gruppenmitglieder sollen daraufhin äußern, was ihnen zu dem jeweiligen vorgestellten Zeitplan einfällt. Innerhalb dieser Kommunikation können gemeinsam Alternativen und Veränderungsmöglichkeiten für die Zeitverwendung gefunden werden und eventuell Antworten auf die Fragen gegeben werden (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 196-197).
Alternativ hierzu lassen sich vor allem Berufswünsche zwischen erwünscht und unbeliebt thematisieren. Hierzu könnte statt des Stundenplanes eine Tabelle entwickelt werden, in der Ressourcen gesammelt, bestimmten erwünschten Berufen gegenübergestellt, auf ein Feld Lösungen (Was kann ich tun, um diesen Wunsch zu fördern?) und ein Gegenfeld (Welcher Beruf entspricht so gar nicht meinen Wünschen?) bezogen werden.
In der Diskussion sollen die Gruppenmitglieder sich insbesondere dazu äußern, wie realistisch die Einschätzungen ausfallen und welche Seiten entwickelt werden müssen, um den Wünschen zu entsprechen.
6. Themenbereich: Zeitgeschichtlicher Kontext
Weltanschauungen in der Familie
Die Lernenden sollen sich die Weltanschauungen, mit denen sie in ihrem bisherigen Leben in Kontakt gekommen sind, bewusst machen, sich erinnern, mit welchen Personen sie diese in Zusammenhang bringen und welchen Einfluss diese Weltanschauungen auf die eigene Person haben.
Für die Durchführung dieser Übung muss der Lehrende einen Katalog mit Satzanfängen vorbereiten, wie zum Beispiel
- Politik ist…
- Gebildet ist jemand, der…
- Geld und Besitz sind…
- Geschiedene Frauen sind…
- Als guter Christ…
- Als guter Muslim…
- Das Leben ist…
- Seinen Eltern gegenüber sollte man…
- Jungen/Mädchen sollten…
Bevor die Lernenden sich mit den Satzanfängen 30 Minuten beschäftigen, die neben zwei weiteren Spalten auf einem DIN-A4-Papier im Querformat dargestellt worden sind, und mit den Fragen
- Welche Person fällt mir dazu ein?
- Welche Gefühle löst der Satz/Ausspruch in mir aus?
betitelt sind, erhalten die Lernenden die Aufgabenstellung des Lehrenden: „Im Laufe unserer Lebensgeschichte sind wir durch unsere Eltern, Lehrer und viele andere Personen mit einer Reihe von Weltanschauungen und Vorurteilen in Berührung gekommen. Auch wenn wir viele dieser Meinungen abgelegt haben, sind doch einige in uns wirksam. Diese Übung hat zum Ziel, solchen Weltanschauungen auf die Spur zu kommen, herauszufinden, wer sie uns vermittelt hat und wo sie heute noch unser Verhalten bestimmen. Du bekommst jetzt eine Liste mit Satzanfängen. Versuche, diese Sätze spontan ohne langes Nachdenken zu vervollständigen. Schreib auf, was dir als erstes einfällt, und versuche, nicht zu werten. Es gibt kein falsch und kein richtig.“
Danach erhalten die Lernenden noch einmal fünf Minuten Zeit, sich mit ihren vollendeten Sätzen zu befassen und auch auf die Fragen der zwei weiteren Spalten einzugehen. Dabei sollen sie ihre Gefühle, auch die widersprüchlichen, stichpunktartig festhalten. Im weiteren Verlauf schließen sich die Lernenden in Vierergruppen zusammen. Jeder stellt in seiner Gruppe drei seiner Sätze vor und orientiert sich dabei an Fragen, wie zum Beispiel
- Fallen mir zu diesen Aussprüchen Begebenheiten ein?
- Von welchen Aussprüchen habe ich mich bewusst abgegrenzt?
- Sagen die Aussprüche etwas über eine bestimmte Schicht oder Altersgruppe aus?
(vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 210-212).
7. Themenbereich: Selbstbild
Selbstwert und Fremdwert (als Erwachsener)
Die Lernenden haben in dieser Übung die Aufgabe, sich selbst einzuschätzen. Dabei gilt es, sowohl die negativen als auch die positiven Seiten herauszustellen. Diese Selbsteinschätzung soll in einem weiteren Schritt mit Einschätzungen anderer verglichen werden. Um ein Gruppenfeedback zu beginnen, eignet sich diese Übung sehr gut.
Die Lernenden benötigen Papier und Stift. Ein DIN-A4-Blatt wird in der Mitte durch eine dicke waagerechte Linie in zwei Hälften geteilt. In die eine Hälfte soll eingetragen werden „Ich mag an mir“ und in die andere „Ich mag nicht an mir“. Danach erhalten die Lernenden kurz Zeit, sich Gedanken über die Sätze zu machen und diese in der jeweiligen Hälfte stichpunktartig festzuhalten. Im nächsten Schritt wird auf dieselbe Weise ein neues Papier gestaltet, in dem die Sätze „Andere mögen an mir“ und „Andere mögen nicht an mir“ eingetragen werden. Die Aufgabe der Lernenden besteht nun darin, sich in Personen hineinzuversetzen, die für sie wichtig waren. Sie sollen sich überlegen, was diese Personen an ihnen schätzen und was nicht. Diese Überlegungen gilt es, wieder stichpunktartig auf dem vorbereiteten Blatt festzuhalten. Danach werden Selbstbild und Fremdbild miteinander verglichen. Wenn die Fremd- anders als die Selbsteinschätzung ausgefallen ist, dann sollen sich die Lernenden folgende Fragen stellen:
- Wie geht es mir mit dieser Einschätzung?
- Kann ich sie annehmen?
- Was fällt mir schwer, an der Einschätzung zu verstehen?
Außerdem haben die Lernenden die Aufgabe, sich bei der Selbsteinschätzung folgende Fragen zu überlegen:
- Wie komme ich zu dieser Einschätzung?
- Woher stammt sie? Von wem habe ich etwas übernommen?
- Erinnere ich mich an Sätze oder Aussprüche in meiner Herkunftsfamilie, die meinen Wert, meine Fähigkeiten betreffen?
Die Auswertung wird in Kleingruppen durchgeführt, sofern die Übung nicht als Einstieg in eine Gruppenfeedbackrunde genutzt wird. Jeder Lernende soll nun sein Selbst- und Fremdbild präsentieren. Die Zuhörenden haben dabei die Aufgabe, auf folgende Fragen zu achten:
- In welchem Bereich liegt der Schwerpunkt der erwähnten Qualitäten oder Mängel (Körper, Charakter, Intellekt)?
- Welche Bereiche sind nicht erwähnt?
- Wie siehst du dich?
- Wie sehe ich dich? (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 243).
Lebensentwürfe und Utopien
Das Ziel dieser Übung besteht darin, seine eigene Lebensgeschichte in der Fantasie weiterzuführen, Utopien zuzulassen, Wünsche und Realitäten zu unterscheiden und Konsequenzen für sein gegenwärtiges Leben zu ziehen.
Um diese Faktoren zu ermöglichen, müssen die Lernenden nur mit Papier und Stift ausgestattet werden und sich dann vorstellen, dass eine bestimmte Zeit (z.B. im Zehn-Jahres-Rhythmus) vergangen ist, und sie sich in einem anderen Jahr befänden. Dazu wird das Papier in zwei Spalten geteilt, wobei die eine Spalte für die „Träume“ und die andere für die realistisch betrachtete Welt steht. Für diese Bearbeitung erhalten die Lernenden z.B. dreißig Minuten Zeit.
Die Art der Auswertung richtet sich nach der Gruppengröße. Es ist möglich, Kleingruppen von zwei bis vier Lernenden zu bilden. Jedes Gruppenmitglied soll nun seine fantasierte Geschichte erzählen, und zwar in der Ich-Form, so als ob die Erzählungen der Gegenwart entstammen. Die anderen Gruppenmitglieder werden gebeten, aufmerksam zuzuhören, darauf zu achten, was nicht erzählt wird und folgende Fragen zu dem Erzählten heranzuziehen:
- Inwieweit bezieht der Erzähler Kontexte (z.B. die politische, wirtschaftliche, soziale Entwicklung) in die Planung der Zukunft mit ein? (Kontexte sollten auf bestimmte Bereiche begrenzt werden)
- Wie ist das Verhältnis von „Traum“ und „Realität“?
- Welche Gefühle habe ich, wenn ich an meine Zukunft denke?
- Bis wohin kann ich sie mir vorstellen, was bleibt verschwommen? (vgl. Gudjons/ Pieper/Wagener 1986, 253).
8. Themenbereich: Körper
Körperbotschaften
Ziel dieser Übung ist es, dass die Lernenden an der Körperhaltung eines Menschen erkennen lernen, welche Erfahrungen dieser Mensch während seines Lebens gesammelt haben könnte. Dies ist allerdings nur begrenzt möglich, da sich zwar Erfahrungen in der Körperhaltung eines Menschen widerspiegeln können, aber die subjektive Ausdeutung immer schwierig sein wird. Hier muss insbesondere darauf geachtet werden, nicht in eine Vulgärpsychologie zu verfallen und oberflächliche Urteile zu erzeugen. An dieser Stelle könnte z.B. mit Hilfe von Schattenrissen eines Körpers verschiedenen Schichten von Erfahrungen nachgegangen werden. Dieses Verfahren ist bei Lernern schwierig, da es insbesondere bei Schülern schnell auf Körperfehlhaltungen stoßen wird, die nicht unbedingt Produkt von langen Lebenserfahrungen sind. Die Methode zur Selbstreflexion eignet sich daher eher bei älteren Teilnehmern. Bei Schülern würden wir Fremdbiografien bevorzugen. Hier sollen sich die Schüler in Körperhaltungen bestimmter historischer Personen hineinversetzen und diese im Schattenriss zeichnen, um darüber über bestimmte biografische Merkmale zu sprechen.
Der Lehrende muss sich im Vorfeld um eine Lampe, Tapetenrolle, Filzstifte und Klebeband kümmern.
Für die Durchführung der Übung wird tiefes Vertrauen in der Gruppe bei der Betrachtung der eigenen Biografie vorausgesetzt. Bei Fremdbiografien ist zu beachten, dass die Aufgabe nicht in alberne Vereinfachung abgleitet. Zunächst müssen sich Paare bilden, die sich gegenseitig auf drei nebeneinander an die Wand geklebten Tapetenrollen, zeichnen. Dabei sollen nur die Schattenrisse im Profil und frontal von jedem festgehalten werden. Um eine genaue Zeichnung erzielen zu können, wäre es hilfreich, wenn die Lernenden eine enge Kleidung tragen würden, damit ihre Haltung erfasst werden kann. Danach werden alle Gruppenmitglieder gebeten, ohne Bewertungen abzugeben, die Schattenrisse aller unter folgender Fragestellung zu begutachten:
- Welche Haltung nimmt die Person ein?
- Was scheint die Körperhaltung auszudrücken?
- Welchen Kontakt hat die Person zum Boden?
Die Gruppenmitglieder sollten ihre Äußerungen immer hypothetisch beschreiben: „Ich meine zu sehen, dass…“ Nachdem die Gruppenmitglieder ihre Wahrnehmungen und Empfindungen geäußert haben, soll die gezeichnete Person zu ihrer Schattenrisszeichnung Stellung nehmen. Als Hilfestellung könnten sie dabei Fragen unterstützen, wie zum Beispiel:
- Was mag ich an mir, was mag ich an mir nicht? Oder: Was mag ich an der historischen Person, was missfällt mir an ihr?
- Was fällt mir zu der Haltung ein?
- Wie geht es den andern, wenn sie diese Haltung einnehmen? (vgl. Dazu teilweise Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 273-274).
9. Themenbereich: Frau - Mann
Kostümfest (oder „ein toller Typ“)
Die Lernenden haben durch diese Übung die Möglichkeit, das Klischee des anderen Geschlechts durch einen Rollentausch, Rollenspiel kennen zu lernen und zu erfahren, wie sich Perspektivwechsel empfinden lassen. Für diese Übung wäre es sehr günstig, wenn innerhalb der Gruppe bereits eine lockere Atmosphäre herrscht.
Diese Übung setzt voraus, dass Männer und Frauen gewillt sind, von sich Kleidungsstücke und Schminke zum Verkleiden mitzubringen. Die Kleidungsstücke werden dann in der Mitte des Raumes gesammelt, und jedes Gruppenmitglied kann sich aussuchen, welche Bekleidung es für seinen Rollentausch benötigt. Hat sich jeder Lernende als seine frei gewählte Person verkleidet, gilt es, diese in einem gewissen Zeitraum hinsichtlich Verhaltensweisen, Empfindungen usw. auszuprobieren und sich in die andere Geschlechterrolle einzufühlen. Dazu sollten Symbole gewählt werden wie z.B. ein besonders Zeichen für das Geschlecht ist…, ein besonderer Satz in meiner neuen Rolle lautet…, eine besondere Körperhaltung meiner neuen Rolle sieht so aus…
Zur Auswertung wird ein Gruppengespräch über die Übung geführt, welches sich z.B. an folgenden Fragen orientieren kann:
- Wie habe ich mich in meiner Rolle erlebt?
- Wie haben mich die anderen in meiner Rolle erlebt?
- Gibt es so etwas wie typisch weiblich oder männlich?
- Möchte ich manchmal lieber ein Mann oder eine Frau sein?
In Ergänzung zur Literatur (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 287- 288) würden wir empfehlen, in jedem Fall vor solchen Übungen tiefer in die Geschlechterforschung und ihre Literatur einzusteigen, um insbesondere vor Vereinfachungen in der Beurteilung gewappnet zu sein. Gerade das Verhältnis Mann-Frau verleitet immer wieder zu sehr einfachen Zuschreibungen und lässt außer Acht, dass das biologische Geschlecht in einem komplizierten Verhältnis zur Genderthematik steht. Insbesondere werden erst aus solchen reflektierten Kontexten hinreichend zielführende Fragen zur Thematik bezogen auf vorhandene Kontexte abgeleitet werden können.
10. Themenbereich: Lebensgeschichte im Überblick
Früher- Heute- Morgen
Diese Übung ermöglicht zum einen, dass die Lernenden sich kennen lernen und zum anderen, dass sie zu einer Reflexion des eigenen Lebenslaufs angeregt werden.
Die Lernenden benötigen dazu nur Stifte und Papier, auf dem sich folgende Fragen befinden, die alleine beantwortet werden sollen.
Als ich 16 war:
- Ein Hauptinteresse…
- Ein Problem, eine Schwierigkeit…
- Eine Hoffnung, ein Wunsch…
Jetzt in meinem Leben:
- Ein Hauptinteresse…
- Ein Problem, eine Schwierigkeit…
- Eine Hoffnung, ein Wunsch…
In zehn Jahren:
- Ein Hauptinteresse…
- Ein Problem, eine Schwierigkeit…
- Eine Hoffnung, ein Wunsch…
Nachdem jeder für sich seine Arbeit beendet hat, werden Vierergruppen gebildet. In diesen kleineren Gruppen soll jeder über seine beantworteten Fragen berichten, und die Zuhörer sollen durch Nachfragen Interesse zeigen und das Gespräch in Gang bringen. Außerdem müssen alle Lernenden für sich selber noch weitere Fragen beantworten (wie zum Beispiel):
- Wie offen konnten die Teilnehmer sein, auf welchen Ebenen bewegten sich die Informationen?
- Wie ist die „Grundstimmung“ der Interpretation?
- Wie hängen für jeden die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft zusammen?
In den Antworten sollen die Teilnehmerinnen sich über die eigene Person und den eigenen Lebenslauf klarer werden (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 320-321).
Die folgenden Übungen sind der Literatur „Methoden der Biografiearbeit. Lebensspuren entdecken und verstehen“ von H.G. Ruhe entnommen. Ruhe teilt seine Übungen nicht in Themenbereiche auf, sondern gliedert sie nach der Anwendung in unterschiedliche Konstellationen, in die Tiefe ihrer Anwendungsmöglichkeit und in sozial-geschichtliche Zusammenhänge, so dass die Übungen in verschiedenen Erfahrungs- und Arbeitsfeldern eingesetzt werden können. Innerhalb der Darstellung der Übungen gibt Ruhe eine kurze Erklärung, Beispiele und konkrete Beschreibungen, sowie Variationen, Ergänzungen, Hinweise und Erweiterungen der Übung (vgl. Ruhe 2003, 20-21).
11 Lebensbaum
Die Übung des Lebensbaumes hat zum Ziel, den Lebensweg des Einzelnen in einer Metapher darzustellen. Sie verhilft dabei, Erinnerungen zu sammeln, diese zu systematisieren und ihnen Ausdruck zu verleihen. Neben dem Lebensbaum kann man als Metapher für den individuellen Lebensweg auch ein Haus, ein Netz, einen Weg usw. verwenden. Da diese Metaphern über zahlreiche Bilder verfügen, die metaphorisch umgesetzt werden können, eignen sie sich sehr gut für diese Arbeit.
Diese Übung bezieht sich auf die individuelle Lebensgeschichte und wird in Einzel- oder Paararbeit durchgeführt. Sie dient der stillen Arbeit, um in sich zu schauen und nachzudenken. Außerdem kann diese Art der Arbeit Anregungen für Umbrüche im Leben bieten.
Zunächst haben die Lernenden die Aufgabe, wichtige Ereignisse aus ihrem Leben aufzuschreiben. Danach malt jeder seinen Lebensbaum. Der Lebensbaum kann Wurzeln, Äste, Zweige, Blätter, eine Krone, verschiedene Farben, einen zweigeteilten Stamm usw. aufweisen. Was gemalt wird, entscheidet jeder Lernende für sich. Jeder Lebensbaum soll individuell sein. Die Einzelheiten, die gemalt werden, sollen die individuellen Lebensereignisse symbolisieren.
Im Anschluss werden die Bilder vorgestellt, erläutert und an der Wand aufgehängt, so dass jeder freien Zugang zu den Bildern hat und sich diese in Ruhe anschauen kann.
Es ist auch möglich, ein Baumgedicht zu verfassen, das das eigene Leben beschreibt. Diese Variante kann ergänzend oder am Schluss dieser Übung angewendet werden (vgl. Ruhe 2003, 29).
12 Dialekte
Durch den Dialekt einer Stimme werden Erinnerungen wieder wach. Außerdem stehen Dialekte für Identifikationen und Identitäten. Das Individuum kann sich durch den Dialekt an Lebensbedingungen, die verborgen waren, erinnern oder sie nachspüren.
Die Lernenden sollen sich nun durch folgende Fragen den individuellen Dialekt ins Gedächtnis rufen:
- Wie haben wir als Kinder gesprochen?
- Wie sprechen wir heute?
- Welche Worte verwenden wir?
- Welche Worte werden vermieden?
Durch bestimmte Wortwahlen kann man sich an Dinge und Gegebenheiten wieder erinnern. Diese Übung wird entweder in Einzel-, Paar- oder Gruppenarbeit angewendet. Dabei wird in einer stillen Runde oder für sich allein gearbeitet, damit der Einzelne zu sich und seinen Erinnerungen der individuellen Lebensgeschichte finden kann. Danach soll die individuelle Lebensgeschichte zu dem Umfeld des Einzelnen gesetzt und bearbeitet werden (vgl. Ruhe 2003, 38).
Alternativ zu den Dialekten könnten auch Rituale mit ähnlichen Fragestellungen bearbeitet werden.
13 Lebensspruch
Für diese Übung, die von den Lernenden verlangt, eine Überschrift für ihre Biografie zu finden, gibt es zwei Varianten.
Die erste Variante besteht darin, dass den Lernenden eine Anzahl von Lebensweisheiten, Sprichwörtern, literarischen Zitaten usw. vorgelegt wird, und jeder daraus für sich einen Lebensspruch wählen soll. Die Entscheidung für den bestimmten Spruch soll danach begründet werden.
Die zweite Variante ist, dass die Lernenden ohne vorbereitetes Material eine Überschrift für ihre Lebensgeschichte finden sollen. Diesen Arbeitsschritt sollen die Lernenden danach vorstellen und erläutern. Durch diese Übung scheint die Biografie greifbarer zu werden.
Die Übung kann bei Einzel-, Paar- und Gruppenarbeit eingesetzt werden. Es ist sinnvoll, die Arbeit an der eigenen Lebensgeschichte im Stillen durchzuführen, damit jeder bei sich bleibt und für sich den richtigen Lebensspruch findet, ohne von den anderen beeinflusst zu werden. Diese Übung kann Anregungen für Umbrüche im Leben bieten (vgl. Ruhe 2003, 82).
Statt Lebenssprüchen können besonders in religiöser Arbeit auch Gebete eingesetzt werden. Gebete haben hier die Funktion, jemandem die Angst vor der Endlichkeit zu nehmen, Sinnsuche zu unterstützen und religiöse Erfahrungen zu verarbeiten. Außerdem verbinden wir oft Kindheitserfahrungen mit Gebeten.
Die Lernenden erhalten die Aufgabe, alle Gebete aufzuschreiben, die von ihnen auswendig aufgesagt werden können. Danach sollen sich die Lernenden über ihre lebhaften Erinnerungen austauschen und die Gebete, die in einer alten Sprache vorhanden sind, in die Sprache der Gegenwart übersetzen. Die Gebetssammlung steht dann nicht im Vordergrund der Interpretation, sondern der Austausch über die Umstände, Bilder, Erinnerungen usw., die mit den Gebeten in Verbindung gebracht werden.
Diese Übung kann in Einzel-, Paar- und Gruppenarbeit durchgeführt werden und dient der Besinnung über religiöse Motive in der Biografie (vgl. Ruhe 2003, 95).
14 Bildbände
In dieser Übung sollen Bildbände über Zeitepochen oder Orte den Lernenden helfen, eigene Erinnerungen an bestimmte Dinge oder Gegebenheiten zu finden. Solche Bildbände verhelfen auch ganz kleinen Erinnerungsstücken an die Oberfläche und spiegeln somit gleichzeitig den Unterschied zur Gegenwart wider.
Den Lernenden werden Bildbände zum Beispiel zu dem Thema Kindheit vorgelegt, die in ihren Abbildungen einen Gegenpol zueinander darstellen (Stadt-Land). Nun sollen sich die Lernenden beide Bildbände betrachten. Danach entwickelt sich meistens von selbst ein Austausch der gemachten Erfahrungen, die nach solcher Anregung meist spontan erfolgen.
In Einzel-, Paar- und Gruppenarbeit kann diese Übung angewendet werden. Sie fordert und fördert den Kontakt und die Kommunikation unter den Lernenden und erfordert eine sachorientierte Erschließung der Thematik. Diese Übung bezieht sich sowohl auf die individuelle Lebensgeschichte, als auch auf das soziale Umfeld des Einzelnen (vgl. Ruhe 2003, 122).
15 Weitere
Es gibt sehr viele weitere Möglichkeiten, Übungen zur Biografiearbeit einzusetzen. Insbesondere Wahrnehmungsübungen, Bildbetrachtungen, Filme oder Videos, Erinnerungsspuren anderer Menschen können helfen, eigene Spuren aufzufinden und assoziativ zu erinnern. Gerade in dieser Kreativität der Bearbeitungsmöglichkeiten liegt der Reiz dieses offenen und dialogischen Verfahrens.
4.5 Material
Das Material, das in den Übungen des biografischen Arbeitens verwendet wird, richtet sich nach den Erfordernissen der jeweiligen Übung. Generell sollte der Lehrende immer genügend bunte, verschiedenartige Stifte, wie zum Beispiel Buntstifte, Kreide, Wachsmalstifte, Filzstifte usw. bei sich haben, um kreative Ausdrucksmöglichkeiten zu fördern. Außerdem muss auch immer ausreichend unterschiedliches Papier, möglichst auch in größeren Formaten, ggf. Tonzeichenpapier, Pergamentpapier, buntes Schreibpapier usw. vorhanden sein. Neben diesen Standard-Materialien muss der Lehrende im Vorfeld beachten, welche Übungen er konkret als Ausgangspunkt anwenden möchte, und dafür die entsprechenden Materialien mitbringen. Je ungewöhnlicher das Vorgehen ist, desto stärker kann das Signal einer kreativen Bearbeitung auf die Lerner wirken. Aber das Material allein entscheidet nicht die Wirksamkeit. Wesentlich ist immer die Beziehungsseite, die Raum für offenen Austausch und Zeit für intensive Dialoge in einem wertschätzenden Rahmen geben muss.
4.6 Räumlichkeiten
Der Lehrende hat sich im Vorfeld eines Seminars um angemessene Räumlichkeiten zu kümmern. Unter angemessen wird hierbei verstanden, dass die Räume den Lernenden eine vertrauenserweckende Atmosphäre und ein konstruktives Arbeiten ermöglichen (url.:http://www.dialogische-fachdidaktik.de/1.7BIOGRA%20L.pdf, 20).
Äußerst wichtig für die Auswahl ist die Größe der Räumlichkeiten, damit sich die Lernenden bei einer größeren Teilnehmerzahl, die sich während der Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit im Raum verteilen, möglichst frei bewegen und untereinander oder alleine ungestört arbeiten können. Die Lernenden sollten sich bei ihrer Arbeit immer an einen ruhigen Ort im Raum zurückziehen können, um die Möglichkeit zu haben, intensiv und relativ ungestört zu arbeiten. Außerdem sollte die Benutzung der Räumlichkeiten so gehandhabt werden, dass ein Treffen der Lernenden vor Beginn des eigentlichen Seminars in den entsprechenden Räumlichkeiten stattfinden kann, damit diese sich näher kennen lernen und an die neue Umgebung gewöhnen können (vgl. Vogt in Schulz 1996, 180; Gudjons/Pieper/Wagener 1986).
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