Kurze Beschreibung der Methode
Primäre und sekundäre Quellen
Theoretische und praktische Begründung
Darstellung der Methode
Beispiele
Reflexion der Methode
Praxiserfahrungen

6. Reflexion der Methode


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6.1 Methodenkompetenz

Es gibt kein enges Ziel der Biografiearbeit, da die Kompetenzen, die mittels der Biografiearbeit gefördert werden können, sehr breit gefächert sind. Die Methode des biografischen Arbeitens bietet zum Beispiel die Möglichkeit, Krisenerlebnisse zu verarbeiten, eine Bilanzierung des bisherigen Lebensweg zu ziehen, bei der Bewältigung allgemeiner Unzufriedenheit zu helfen, als Stütze für Neuorientierungen zu fungieren, eigenständig Lernprozesse zu bearbeiten, Sinngebung, Identitätsstärkung und Identitätsbildung zu fördern, Selbstständigkeit zu entwickeln, das Leben in bestimmte ganzheitliche Bilder einzuordnen, persönliche Entfaltung und Kreativitätsentwicklung anzuregen und Verantwortung zu übernehmen. Weiterhin regt die Biografiearbeit zu einem Perspektivenwechsel an, der Veränderungen und Entwicklungen von Blickrichtungen, Sichtweisen, Standpunkten und neuen Handlungs-, Wahrnehmungs- und Deutungsmustern ermöglicht (vgl. z.B. zu solchen Listen: Ruhe 2003, 8, 10, 144; Grundner in
http://www.stefan.poehl.name/text/lernbiographien-erwachsenenbildner.pdf 1;
Vogt in Schulz 1996, 52; Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 46).
Im Vordergrund der biografischen Kompetenzen steht die Persönlichkeitsentwicklung des einzelnen Lernenden, die viele Faktoren der oben genannten Zielsetzungen, wie zum Beispiel die Ausbalancierung der Identitätsentwicklung, die Eigenständigkeit und den Perspektivenwechsel mit einschließt. Der biografische Arbeitsprozess, der sich vorrangig aus dem Erzählen und Schreiben der Erfahrungen der Lernenden sowie deren Bearbeitung in bestimmten Übungen unterschiedlicher Themenbereiche zusammensetzt, bezieht sich immer auf die Erlebnisse der Vergangenheit, Gegenwart und deren Fortsetzung in die Zukunft. In diesem Sinne ist das Individuum mit all seinen Sichtweisen und Haltungen, wie zum Beispiel seinem Denken, Bewusstsein, Gefühlen und seinen Handlungen als ganzheitlich zu verstehen und zu behandeln. Hier ist es günstig, von einem dreigestuften Modell des biografischen Arbeitens auszugehen. Die Biografiearbeit setzt bei einem der drei Schritte an und arbeitet sich dann in die anderen beiden vor.

  • Die erste Ebene ist die des Individuellen. Diese bezieht sich auf die gesamte Lebensgeschichte des Individuums, um dann von der Gesamtbetrachtung der persönlichen Biografie zu den einzelnen, dahinter liegenden Ereignissen und Erfahrungen zu gelangen.
  • Die zweite Ebene ist die des Gesellschaftlichen. Diese Ebene bettet das Individuum  in seine Umwelt ein, verdeutlicht ihm seine Lebenschancen und führt dem Individuum  vor Augen, auf welche Weise die gesellschaftlichen Ereignisse die eigene Biografie   geprägt haben. Diese Ebene ist mit der dritten Ebene verbunden.
  • Die dritte Ebene ist die des Unbewussten. Sie befasst sich mit dem Begehren, Mustern, Tabus und Interessenlagen, die Antrieb oder Blockade im Lebenslauf bedeuten. Hier kann es im Einzelfall auch um seelische Schäden und deren Heilung gehen (vgl. Gudjons/Pieper/ Wagener 1986, 46; Ruhe 2003, 13 f.

Diese ganzheitliche Auffassung der Lernenden und die ganzheitliche Bearbeitung  individueller Biografien bedürfen von dem Lehrenden einer sorgfältigen Vorbereitung, einer behutsamen Durchführung und einer genau auf die Situation der Lernenden bezogenen Abstimmung der Übungen. Entscheidend ist hier eine offene, dialogische und wertschätzende Haltung des Lehrenden gegenüber den Lernenden. Während des biografischen Arbeitens muss der Lehrende den Lernenden echtes Interesse und Neugierde entgegenbringen und ihnen seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Der Lehrende hält sich während des Arbeitens, sei es beim Erzählen oder bei anderen Übungen, im Hintergrund und schaltet sich nur ein, um den Arbeitsprozess durch vorsichtiges Fragen oder um Anregungen zu geben, voranzutreiben. Hier kann insbesondere eine konstruktivistische Haltung helfen, tatsächlich eine offene Haltung für unterschiedliche Versionen von Wirklichkeitsauffassungen auszubilden, ohne dabei allerdings im Unverbindlichen enden zu wollen, für das alle Lebensentwürfe oder Muster gleich gut sind. Aus der konstruktivistischen und systemischen Perspektive kommt es vielmehr darauf an, die Ressourcen im Lebensentwurf zu prüfen und mit den getroffenen Lösungen in Verbindung zu bringen. Aber hier kann der Lehrende dann nicht einfach von außen einen besonders guten Lebensverlauf instruieren. Vielmehr muss innerhalb des gemeinsamen Arbeitens an der individuellen Biografie ein gleichberechtigter Dialog zwischen Lehrendem und Lernenden herrschen. Das bedeutet, dass keine hierarchischen Urteile oder gar eine Moral von oben nach unten praktiziert werden. Es sollte sich vielmehr ein die Lösungen problematisierender und anerkennender Austausch über die individuellen biografischen Erfahrungen zwischen dem Lehrenden und den Lernenden entwickeln. Sollten Problemstellen benannt werden, dann geht es um eine Orientierung an den Ressourcen und den Möglichkeiten des Betroffenen, aber nicht darum, was der Lehrende für sich tun würde. Allerdings kann und sollte er Anregungen geben, Vorschläge machen und kritisch vom Lernenden überprüfen lassen.
Den Lernenden kommt während der Bearbeitung ihrer persönlichen Lebensgeschichte die Aufgabe des selbstständigen Arbeitens zu. Die Übungen und die Handhabung der Methode fordern und fördern zugleich die Eigenaktivität der Lernenden. Durch die selbstständige Bearbeitung der eigenen Probleme in den biografischen Aufgaben und Übungen entsteht eine Intensivierung und Steigerung des Selbstwertgefühls. Es soll aber keine Überforderung der Lernenden entstehen. Wird die Methode kompetent eingesetzt, dann kann ein Motivationsschub entstehen, der den biografischen Lernprozess weiter vorantreibt, so dass noch intensiver und effektiver gearbeitet werden kann. Je früher und durchdringender sich das Selbstwertgefühl bei den Lernenden einstellt, umso selbstverständlicher und sicherer können sie alleine an ihrer Lebensgeschichte weiter arbeiten.
Die biografische Methode bringt deutlich einen Bezug zum Konstruktivismus, genauer gesagt zur konstruktivistischen Didaktik, zum Ausdruck. Die konstruktivistische Didaktik, die auch als Ermöglichungsdidaktik betitelt werden kann, zielt grundsätzlich auf ein gutes Zusammenspiel von Inhalten und Beziehungen ab. Die Biografiemethode ist ein sehr wichtiges Hilfsmittel, um dieses Ziel auch konkret erreichen zu können.
Während die Lehrenden eine hohe Methodenkompetenz aufweisen müssen, haben die Lernenden die Aufgabe, sich aus ihrer passiven Rolle zu lösen und Eigenaktivität zu zeigen. Sie sollen sich selbst erfahren, ausprobieren, Eigenes konstruieren und erfahren, und zwar nach individuellen Interessen-, Gefühls- und Motivationslagen. Die konstruktivistische Didaktik will nicht vorrangig durch vorgetragene Theorien belehren, sondern möchte die Lernenden motivieren, ihr Interesse für Neues zu wecken und eigene Ideen zu entwickeln, um diese auch in die Praxis umzusetzen zu können.
Damit dieses Lernen ermöglicht werden kann, muss ein angemessener Rahmen gewährleistet werden, der sowohl das selbstständige Lernen einschließt, als auch den Inhalten und Beziehungen Beachtung schenkt. Das Zusammenwirken der Inhalte und Beziehungen kann aber nur funktionieren, wenn ausreichend Übungen und Methoden zur Anwendung gegeben sind, die den Umgang mit beiden Seiten ermöglichen.
Innerhalb dieses Arbeitens legt die konstruktivistische Didaktik großen Wert auf symbolische Deutungen, Imaginationen und das Reale. In der konstruktivistischen Didaktik ist es notwendig, dass die Lernenden und Lehrenden während des Bearbeitungsprozesses verschiedene Rollen, wie die des Beobachters, des Teilnehmers und des Akteurs einnehmen. Daran zeigt sich, dass der Lehrende nicht immer die Führungsfunktion übernimmt, sondern auch als Begleiter und Berater von Lernwegen fungiert. Somit können die Lernenden selbstständiger arbeiten. Das Wissen, dass die Lernenden innerhalb des Bearbeitungsprozesses gewinnen, gilt immer als unvollendeter Wissensstand.
Diese Aspekte, insbesondere der des Rollenwechsels der Lehrenden und Lernenden, der neue Blickrichtungen für Wirklichkeitskonstruktionen ermöglicht, zeigt deutlich die Verbindung der Biografiearbeit zum Konstruktivismus und somit Kompetenzen der biografischen Methode.
Weitere Kompetenzen der Biografiearbeit äußern sich in Faktoren wie Kommunikationsfähigkeit, Erlernen bestimmter Sozialformen, Akzeptanz und Anerkennung anderer, Zuhören bei den Erzählungen anderer, dem Überdenken und möglicherweise Annehmen von Alternativen, im Lernen aus Fremdbiografien usw., die innerhalb der Gruppenarbeit gewonnen werden können. Die Gruppenarbeit ist eine bedeutsame Konstellation in der Biografiearbeit, da diese im Gegensatz zur Einzelarbeit dem Individuum dialogischen Austausch über seine Konstruktionen mit anderen ermöglicht und dadurch zu realistischen Einschätzungen beitragen kann.
Neben diesen positiven Effekten in der Gruppenarbeit könnten sich auf Grund der heterogenen Zusammenstellung einer Gruppe auch Probleme einstellen. Diese kommen zum Beispiel durch das Aufeinandertreffen verschiedener Charaktere zustande. Daher muss ein Verhältnis zwischen den Gruppenmitgliedern geschaffen werden, in dem jeder dem anderen Achtung und Akzeptanz entgegen bringt. Erst wenn jeder Lernende mit seiner ganz speziellen Persönlichkeit als Gruppenmitglied angenommen worden ist, kann sich in der Gruppe Sicherheit und Vertrauen entwickeln. Dadurch fühlt sich das Individuum in der Situation, den anderen Lernenden seine Erfahrungen zu offenbaren. Gerade die Biografiearbeit kann zur Entwicklung solcher Kompetenzen ein Schlüssel sein. Sie muss dann aber behutsam eingeführt werden. Komplexe Biografiearbeit kann erst gelingen, wenn eine vertrauensvolle Atmosphäre beim Arbeiten entstanden ist und dem Individuum und seiner Lebensgeschichte Wertschätzung entgegen gebracht wird. Es ist eine wesentliche Aufgabe des Lehrenden, eine solche Basis im Seminar/im Unterricht herstellen zu helfen.
Die vielfältige Einsetzbarkeit der Biografiearbeit bringt eine hohe Relevanz der Methode zum Ausdruck. Sie kann in den verschiedensten Lebensbereichen, wie zum Beispiel im Schul- und Ausbildungsbereich, in beraterisch-therapeutischer Arbeit, in der außerschulischen Jugendarbeit, in Erzählcafés, in Selbsthilfegruppen, in der Einzel- und Partnerarbeit usw. eingesetzt werden, da sie ihre inhaltlichen Anregungen aus unterschiedlichen Themenbereichen, wie zum Beispiel der Kindheit, dem Berufsleben, der Geschlechterrolle, der Ernährungsweise usw. zieht. Primär wird die Biografiearbeit aber in den Praxisfeldern eingesetzt, die sich bisher weniger auf den Bildungs- und Ausbildungsbereich beziehen, obwohl die Methode prinzipiell überall einsetzbar ist. Ein Grund für den bevorzugten Einsatz in den oben genannten Bereichen besteht darin, dass der Schwerpunkt des biografischen Arbeitens bisher auf der Psychoanalyse liegt. Deren Umsetzung wird von den Lehrenden in den Bildungsbereichen als schwieriger und komplizierter angesehen, da dort verschiedene Persönlichkeiten aufeinander treffen, von denen sich möglicherweise nicht jeder ohne weiteres auf die Biografiearbeit einlässt und somit Vorurteile gegenüber der biografischen Methode bestehen. Auch die Lehrenden wissen in der Regel nur Oberflächlichkeiten von der Psychoanalyse. Zum anderen entspricht der schulische Rahmen, in dem das biografische Arbeiten durchgeführt werden soll, nicht unbedingt einer angenehmen und vertrauenserweckenden Atmosphäre. Außerdem besteht auf Seiten der Lehrenden Angst, bei der Durchführung der Biografiearbeit zu versagen, oder sie vermuten, dass das biografische Arbeiten nicht funktioniert, so dass am Ende alle Beteiligten frustriert sind. Ein weiterer Punkt für die mangelnde Anwendung der Biografiearbeit im Bildungs- und Ausbildungsbereich besteht darin, dass die Lehrenden sich mit neuen Anforderungen und Lernwegen auseinandersetzen müssen. Das Gelingen der Biografiearbeit liegt zunächst in der Hand des Lehrenden, da dieser die Methode des biografischen Arbeitens vorbereiten, strukturieren, leiten und durchführen muss. Allerdings liegt der größere und anstrengendere Arbeitsaufwand letztendlich bei den Lernenden, weil sie keine passive Rolle einnehmen dürfen, da diese ihnen die Eigenaktivität untersagen würde.
Die genannten Hindernisse sollten aus der Sicht einer konstruktivistischen Didaktik überwunden werden. Lehrende können genügend offene Ansätze wählen, die die Biografiearbeit effektiv in allen Kontexten einsetzen lässt. Im Prinzip kann nämlich jeder biografisch sinnvoll arbeiten. Diejenigen, die sich zu belastet fühlen, sollten im Grunde selbst einmal in Beratungsprozessen diese Methode probieren, um für sich zu Lösungen zu gelangen. Sie sollten jedoch nicht dem Lernen ihrer Lerner eine wesentliche Chance verwehren, stärker auf sich reflektieren zu können. Dabei geht es um eine Lern- und Arbeitstechnik im erweiterten Sinne, die nicht direkt mit Inhalten der Schule verbunden sein muss (die aber damit sehr gut verbunden werden kann!), und die vor allem für die Beziehungskultur als Rahmen jeder Inhaltsvermittlung ausschlaggebend werden kann. Deshalb ist es wichtig, die Biografiemethode fest im Curriculum vor allem der kulturgeschichtlichen Fächer zu verankern.


6.2 Methodenvielfalt

Die Vielfalt der biografischen Methode äußert sich bereits darin, dass sich die Biografiearbeit aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen, wie zum Beispiel der Psychologie, den Erziehungs-, den Sozial- und Literaturwissenschaften heraus begründen lässt. Weiterhin ist die Vielfalt der Methode des biografischen Arbeitens anhand der verschiedenen Einsatzorte und -formen und ihrer hohen Flexibilität bezüglich des Ablaufs, der Übungen, der Gestaltung und der Durchführung gegeben. Die Biografiearbeit ist zum Beispiel in Arbeitsfeldern wie der Jugendarbeit, Alten- und Pflegearbeit, an Schulen, Fach- und Hochschulen, in Selbsthilfegruppen für Frauen und Männer usw. einsetzbar. Innerhalb dieser Arbeitsfelder können wir die Methode in verschiedenen Konstellationen, wie zum Beispiel der Einzelarbeit, Gruppenarbeit in Klein- und Großgruppen oder auch in der Partnerarbeit durchführen. Aufgrund der unterschiedlichen Durchführungsvarianten erhalten die Lernenden die Möglichkeit, verschiedene Sozialformen kennen zu lernen. Prinzipiell können alle in jedem Lebensalter die Methode des biografischen Arbeitens nutzen.
Dieser große Handlungsspielraum der Biografiearbeit setzt auf Seiten der Lehrenden eine hohe Methodenkompetenz voraus. Während der Gestaltung und Durchführung der Methode hat der Lehrende die Aufgabe, sich entweder nach individuellen oder auch von der Gruppe ausgehenden Interessen und Wünschen zu richten und dementsprechend zu handeln. Dabei muss der Lehrende seine eigenen zielgerichteten Vorhaben einschränken und sich nach den Bedürfnissen der Lernenden richten und an der entsprechenden Situation orientieren. Die Voraussetzungen, die die Lernenden mitbringen, stehen immer im Mittelpunkt des biografischen Arbeitens, und nach diesen muss sich der Ablauf in der Biografiearbeit richten. Aus diesen Gründen ist eine hohe Flexibilität beim Einsatz der biografischen Methode unerlässlich. Vielfalt und Flexibilität der Methode äußern sich auch darin, dass die Biografiearbeit die Sichtweise der Ganzheitlichkeit vertritt. Sie nimmt den Menschen auf kognitiven und emotionalen Ebenen und in zeitlichen Perspektiven wahr. Dabei gesteht sie jedem Einzelnen ein kreatives Potenzial an Lösungen zu, wodurch mit unterschiedlichsten Lebensgeschichten und Vorgehensweisen umgegangen werden muss, die eine hohe Variabilität der Methode verlangen. Für den Einzelnen stellt dieser Aspekt eine individuelle Chance zur Artikulation seiner Andersartigkeit dar, für die Gruppe eine Chance der Demonstration von Pluralität und Diversität.
Neben dieser hohen Methodenvielfalt, die sich insbesondere mit anderen Methoden aus dem Methodenpool vielfältig verbinden und gestalten lässt, bestehen aber auch Grenzen innerhalb der Biografiearbeit. Eine Grenze, die auch als Chance angesehen wird, ist die Beachtung der gefühlsmäßigen und gedanklichen Situation, der Voraussetzungen, der Interessen und Wünsche der Lernenden. Solche Grenzen müssen sensibel wahrgenommen werden, insbesondere um die intimen Gefühle und Anerkennungen jedes Lerners zu schützen. Aber die individuelle Vielfalt weist auch eine andere Grenze auf, die in der Darstellbarkeit liegt. Vielfalt lässt sich selten so umfassend darstellen, wie sie gefühlt wird. Wir neigen dazu, sie zu vereinfachen und auf vermeintlich feste Ordnungen und Erwartungen zu reduzieren. Deshalb ist es notwendig, die Arbeit an Biografien immer als unvollständig und unvollendet zu begreifen.
Während der biografischen Arbeit ist auch von großer Bedeutung, dass Regeln, Normen und Werte eingehalten werden. Diese umfassen zum Beispiel die Akzeptanz und Rücksichtnahme anderer Lernender, das Ausreden lassen und nicht Unterbrechen der anderen, so dass niemand zu den Übungen und Aufgaben unter Druck gesetzt wird usw. Eine weitere Grenze, oder besser ausgedrückt Abgrenzung, der Biografiearbeit, besteht gegenüber der therapeutischen Arbeit. Die Biografiearbeit ist keine Therapie und kann auch nicht therapeutische Arbeit leisten. Die Grenzen zu einer therapeutischen Behandlung sind zwar mitunter fließend, und die Übungen der Biografiearbeit und die der therapeutischen Verfahren überschneiden sich gegenseitig, aber beim biografischen Arbeiten geht es nicht um die professionelle Bearbeitung in einer Psychotherapie. Es gibt aber Erfahrungen, die so schmerzhaft sind, dass das Individuum diese aus seinen Erinnerungen verdrängt, und die durch die Methode des biografischen Arbeitens hochgespült werden können. Hierbei kann die Biografiearbeit Vorarbeit für eine Therapie leisten, das Individuum also auf diese vorbereiten, ohne selbst therapeutisch hinreichend bearbeitet sein zu können. Dabei zeigt sich nicht nur die Grenze, dass Biografiearbeit keine Therapie ist, sondern auch, dass die Biografiearbeit das Individuum vorrangig motivieren und anregen soll, Veränderungen in allen Lebensbereichen zu vollziehen. Sie hat aber weniger direkten Einfluss auf die praktische Realisierung der Veränderungen (vgl. Gudjons/Pieper/Wagener 1986, 36 f.). Lehrende müssen ihrerseits erkennen, wenn therapeutische Hilfe empfohlen werden muss, sie sollten sie keineswegs selbst anbieten.
Die Grenzen, die möglicherweise auch Risiken bergen, können den Lernenden eventuell dadurch deutlich gemacht werden, dass generell vor Beginn des biografischen Arbeitens über Möglichkeiten und Chancen und über die Grenzen und Risiken der Biografiearbeit gesprochen wird. Außerdem ist es möglich, die Risiken des biografischen Arbeitens einzudämmen, indem im ersten Schritt Mut machende und positive Aspekte aufgesucht und bearbeitet werden. Mit diesen Ressourcen und Kompetenzen beginnend kann man sich dann in schwierigere und belastete Bereiche vortasten. Dabei ist es sinnvoll, ein gestuftes methodische Verfahren anzuwenden, um dem Risiko einer Überforderung oder Zwanghaftigkeit vorzubeugen (url: http://www.dialogische-fachdidak­tik.de/1.7BIOGR~1.pdf, 20).  
Die Biografiearbeit selbst weist eine hohe Methodenvielfalt auf, die sich insbesondere in der Variabilität der Lernwege und in der Vielzahl der Lernziele widerspiegelt.


6.3 Methodeninterdependenz

Die Ziele, Sichtweisen und Kompetenzen, die die Biografiearbeit verfolgt, sind in ähnlicher Form in zahlreichen Methoden und Konzepten der Humanistischen Psychologie wieder zu finden. Alle Konzepte der Humanistischen Psychologie, wie zum Beispiel Gruppendynamische Selbsterfahrung, Themenzentrierte  Interaktion, Gestalttherapie, Gesprächstherapie, Sensitivity-Training, Encounter Gruppen, Psychodrama, Rationalemotive Therapie, Neuentscheidungstherapie, Kommunikationstherapie, Transaktionsanalyse und noch viele weitere, definieren den Menschen aus einer ganzheitlich orientierten Sicht. Die Faktoren Denken, Bewusstsein, Gefühl, Körper, Handeln usw. sind hierbei wichtig, und eine Vielfalt von Faktoren soll gleichermaßen beachtet werden. Dies ist allerdings eher idealtypisch gedacht. Neben dieser ganzheitlichen Sichtweise des Menschen, die auch die Biografiearbeit vertritt, überschneiden sich die Zielsetzungen der Humanistischen Psychologie und der Biografiearbeit in weiteren Punkten. Hierzu gehören zum Beispiel die persönliche Entfaltung, Wachstum, Kreativität, Sinnfindung, Selbstverwirklichung und Übernahme von Verantwortung. Die Humanistische Psychologie und deren einzelne Konzepte legen aber den Schwerpunkt ihrer Zielsetzung auf die Erfahrungen in der Gegenwart, darauf, dass diese Verfahren nicht theorielastig sind, auf das individuelle Potenzial und die Gegenwart allgemein, wobei das gefühlsbetonte Lernen stark in den Vordergrund gestellt wird. Biografiearbeit in einem erweiterten Sinn lässt sich jedoch im Grunde mit allen kulturbezogenen Ansätzen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften verbinden, sofern diese den Menschen als Akteur in seinen Lebensereignissen sehen, der sich in seiner Teilnehmerrolle reflektieren soll und als Beobachter auch sich selbst in den Blick zu nehmen hat. Dabei kommt für die konstruk­tivistische Didaktik auch noch der Gesichtspunkt hinzu, dass die Biografiearbeit durchaus in der Fremdbeobachtung, z.B. im Geschichtsunterricht oder im Deutschunterricht, dazu genutzt werden kann, Personen in anderen Zeiten am Beispiel ihrer Biografie zu verstehen, Teile aus diesen Biografien nachzuspielen oder in ein Planspiel umzusetzen usw. So wird neben den Inhalten für die Lerner zugleich der bedeutsame Bezug zu ihren eigenen Ansichten und Urteilen über das, was sie inhaltlich bearbeiten, hergestellt. So kann die große Schwäche der Bildungstheorien, wie etwa der bildungstheoretischen Didaktik, überwunden werden, die immer nur in der kategorialen Bildung von Seiten des Inhalts einseitig auf den Lerner geschlossen hat, also in der Bildung selbst den Zweck nach Form und Inhalt eingeschlossen sah, aber nicht akzeptieren wollte, dass der Lerner – und zwar jeder Lerner – auch ein eigenes Anrecht auf Schlussfolgerungen gegenüber jeglicher Bildung aus seiner Sicht, aus seiner Zeit und kultureller Widersprüchlichkeit und Ambivalenz heraus hat, also sein eigenes subjektives Lernen mit dem konfrontieren muss, was gelernt werden soll. Dies kann und muss bedeuten können, dass bestimmte Bildung auch in Frage gestellt und verändert werden kann, ein Umstand der insbesondere von den deutschen Lehrplänen bis heute im Gegensatz zur internationalen Entwicklung zu sehr verweigert wird.
Eine methodeninterdependente Sichtweise der Biografiearbeit lässt sich vor allem aus drei Perspektiven ziehen:

  • Die Methode des biografischen Arbeitens stellt das Arbeiten und Erleben der Gegenwart nicht so stark in den Vordergrund, sondern versucht die Ereignisse aus einer Vergangenheit im Blick auf eine Zukunft mit Sinn zu erfassen. In der Arbeit im Hier und Jetzt setzt die Biografiearbeit an, um sich situativ auf Ressourcen und Lösungen einzulassen. Biografiearbeit sieht es für eine Reflexion des eigenen Lebens als sehr wichtig an, dass auf möglichst vielen zeitlichen Ebenen gearbeitet und gelernt wird. Biografiearbeit sollte aber auch nicht, wie es einige Ansätze zeigen, zu sehr auf die Erklärung aus der Vergangenheit fixiert sein und sich damit Lösungschancen für die Gegenwart verbauen.
  • Biografiearbeit sollte nie naiv werden und nur noch subjektive Kontexte ohne Rücksicht auf andere Personen und Beziehungsgeflechte, ohne Sinn für historische, soziale, kulturelle, ökonomische oder andere Bedingungen  entwickeln. Biografiearbeit ist mit anderen Worten die Chance, eine interdisziplinäre und auch transdisziplinäre Reflexion auf subjektive Lebensereignisse in weiteren Kontexten zu wagen.
  • Biografiearbeit ist nicht nur wissenschaftlich geleitete Arbeit, sondern immer die Chance, das Wissen mit dem Gefühlten, das Erfahrene mit dem Erlebten, das Objektive mit dem Subjektiven in einer Re/De/Konstruktion zu vermitteln.
  • Biografiearbeit ist vor allem im pädagogischen Bereich eine sehr wichtige Methode, weil hier eine effektive Möglichkeit besteht, die eigene Lebens- und Lerngeschichte aufzuarbeiten. Dies ist für alle sozialen Berufe wie auch für die Beziehungsseite in anderen Berufen wie im privaten Leben eine wesentliche Voraussetzung, um sich eigenen Stärken und Schwächen stellen zu können.